In den freundlichen, mit Luftballons und Zeichnungen dekorierten Räumen der neuen Musikschule singen die herausgeputzten Kinder aus Srebrenica die Nationalhymne von Bosnien und Herzegowina: „La, la, la, la, la, la, la“.
Gemeinsam im selben Chor singen hier die Kinder und Enkelkinder der Belagerer und Belagerten.
Die Mädchen haben sich geschminkt, um älter zu wirken und wie die Sängerinnen aus dem Fernsehen auszusehen. Die Jüngeren haben sich Sterne und Glitter ins Gesicht gesprüht. Ihre Eltern drängeln sich durch die Menge, versuchen, ein möglichst gutes Foto zu machen und einen besseren Blick zu erhaschen. „La, la, la, la“.
Unsere Nationalhymne hat keinen Text*.
Für diejenigen, die nicht wissen, was in Srebrenica geschah – und im Publikum befindet sich keiner dieser Menschen –, mag das einzig Ungewöhnliche das „la, la, la, la, la, la, la, la“ anstelle des Textes der Hymne sein.
Ein Bub namens Ranko führt durch das Programm. Er kündigt das nächste Stück an: „Besame Mucho, gespielt von Ranko Milosavljević auf der Klarinette.“ Er hält kurz inne.
„Oh, das bin ja ich!“, sagt Ranko.
Das Publikum lacht.
Der Scherz hat funktioniert: Es ist befreiend, seinen eigenen Namen zu vergessen.
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Komm mit auf die Party, sage ich zu Hasan.
Ich mag keine Partys.
Nun komm schon, Hasan, komm mit, sage ich aufmunternd. Hasan hat den Genozid in Srebrenica überlebt. Das war vor 20 Jahren.
Nein, Ich komme nicht, ich würde euch nur die Stimmung verderben.
Du wirst niemandem die Stimmung verderben. Alle werden sich amüsieren. Es ist Festivalzeit. Sommer. Sarajevo.
Wenn die Leute mich sehen, dann denken sie an Srebrenica und ich verderbe ihnen den Spaß.
Aber du bist nicht nur Srebrenica.
Ich habe es hundert Mal erlebt: Die Leute haben Spaß und dann sehen sie mich … Sie fühlen sich in meiner Gegenwart nicht wohl.
Na und? Zeig ihnen, dass du ein Recht darauf hast, Spaß zu haben und zu lachen. Komm, bitte, komm mit.
Die Party hat begonnen. Hasan ist nicht da.
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Dieses Jahr reiste anlässlich des Holocaust-Gedenktags eine Gruppe aus Srebrenica in die Niederlande. Ramiza verlor ihren Ehemann, Vater, Bruder, Großvater und drei Onkel; Muška verlor zwei Kinder, den Ehemann, Schwiegervater, Schwager, sechs Neffen und einen Onkel; Nura verlor ihren minderjährigen Sohn, Ehemann, Schwiegervater und sechszehn Familienmitglieder; Fatima verlor ihre drei Kinder …
Sie besuchen das Westerbork Memorial Center.
Während der Gedenkveranstaltung werden sie vom Organisator gebeten, so wie es dort üblich ist, die Namen und das Alter der Opfer vorzulesen.
Die Frauen nehmen die Namensliste und stolpern über die Worte:
Ina Speer, zeven jaar
Isaac Speer, achtenzeventig jaar
Isaac van Speer, zeventien jaar
Isaac van Speer, vier jaar
Isaac Elias van Speer, drieendertig jaar
Isaac van Speer, achtendertig jaar
Isaac van Speer, dertig jaar
Isaac Abraham van Speer, tweeendertig jaar
Izaac Speer, drieen-zeventig jaar
Jakob Speer, dertig jaar
Sie haben Schwierigkeiten mit der Aussprache. Sie verhaspeln sich, schaffen es nicht, zwei Buchstaben aneinanderzureihen.
Muška beginnt verstohlen zu lachen.
Die Frauen, von denen manche nur die Grundschule abgeschlossen haben, die vor dem Krieg noch nie aus ihrem Dorf hinausgekommen waren, die keine Fremdsprachen sprechen, lesen die holländischen Wörter und fühlen sich wie auf einem holprigen Schotterweg, der sie jeden Moment zum Stolpern bringen wird. Der Schweiß bricht ihnen aus. Die Situation ist bedrückt, angespannt, aber die Wörter kitzeln auf der Zunge.
Sie versuchen das Lachen, das ihren Körper durchzuckt, zu unterdrücken. Sie wagen es nicht, sich gegenseitig in die Augen zu sehen, aus Angst, dass es aus ihnen herausbricht. Verlegenheit macht sich breit. In jedem Namen sehen sie ihr eigenes Kind, ihren Ehemann, Vater, Bruder. Aber sie weinen fast vor Lachen. Sie versuchen es beim Sprechen zu unterdrücken, brechen jedoch immer wieder in Gelächter aus.
2. Mai 2015
* Da die an der Macht befindlichen nationalen Parteien nicht in der Lage waren, eine politische Einigung zu erzielen, wurde keiner der vorgeschlagenen Texte für die Nationalhymne angenommen. Aus diesem Grund hat die Hymne von Bosnien und Herzegowina seit dem Krieg keinen Text.
Dieser Text wurde 2015 im Rahmen des Ausstellungs- und Publikationsprojekts SREBRENICA TODAY veröffentlicht, das anlässlich des Gedenkens des 20. Jahrestags des Genozids von Srebrenica und der Unterzeichnung des Dayton-Abkommens initiiert und am 11. Juli in der Gedenkstätte Srebrenica -Potočari im Rahmen der offiziellen Gedenkfeier gezeigt wurde.
Srebrenica today
Herausgeber: ERSTE Stiftung, 2015
Redaktion: Christiane Erharter
Fotografien von Dejan Petrović
Texte von Boris Buden, Erhard Busek, Slavenka Drakulić, Doraja Eberle, Haris Pašović, Bojana Pejić, Wolfgang Petritsch, Jasmila Žbanić
Unterstützt von Doraja Eberle in Kooperation mit “Bauern helfen Bauern” – Bratunac
Die Ausstellung war auch in den Räumlichkeiten der ERSTE Stiftung in Wien, im Kulturzentrum Parobrod in Belgrad, beim Europäischen Forum Alpbach und, 2016, im Philantropy House in Brüssel zu sehen. Zwanzig Jahre nach dem Völkermord lieferte SREBRENICA TODAY ein visuelles Porträt der Stadt und ihrer BewohnerInnen, das Momente des täglichen Lebens in der Stadt Srebrenica und ihrer Umgebung zeigt.
Die Ausstellung bestand aus acht Postern. Jedes von ihnen zeigte Fotoporträts der BewohnerInnen, ihren Alltag oder berufliche Aktivitäten. Diese Porträts wurden mit Texten von Persönlichkeiten aus Politik, Kunst und Kultur kombiniert.