Ausländische Unternehmen ziehen sich aus dem Zeitungsgeschäft zurück, national gesinnte Regierungen übernehmen die Kontrolle öffentlich-rechtlicher Sender. Zur Lage der Medien in Mittel- und Osteuropa.
Tamás Bodoky steht im Eingang zur Dachkammer zwischen Bierkisten und einem altem Schlagzeug und sagt, dass es ihm hier gefällt. Alles sieht sehr nach Provisorium aus. Aber seit Bodoky mit seiner Redaktion den Raum über dem jüdischen Kulturzentrum “Aurora” angemietet hat, erspart er sich eine Menge Geld. Draußen auf der Straße ist es nicht unbedingt einladender. Von den Fassaden bröckelt der Verputz. In einer Hauseinfahrt schläft ein Obdachloser unter speckigen Wolldecken. An einer Straßenecke liegen gebrauchte Spritzen auf dem Gehsteig.
Dank an „Gott und Viktor Orbán”
Ein weiteres Crowdfunding-Projekt wurde in Ungarn vor zwei Jahren gegründet. „Direkt36“ arbeitet eng mit internationalen Rechercheteams wie OCCRP (Organized Crime and Corruption Reporting Project) zusammen und verfolgte unter anderem die ungarischen Spuren der Panama Papers und Paradise Papers. Als Konkurrenten sehen sich die neuen Internet-Projekte nicht, sagt Bodoky: „Unserer Gegner sind die staatlich gelenkten Medien, die täglich falsche Nachrichten produzieren.“ Diese Gegner sind übermächtig: Drei staatliche Fernseh- und sechs Radiosender plus eine Agentur, die alle Sender zentral mit Nachrichten versorgt. Alle Personen in leitenden Funktionen wurden von der regierenden Partei ausgesucht. Auch die Eigentümer der größten privaten TV- und Radiosender stehen der Regierung nahe. Fast alle Regionalzeitungen gehören einem Freund des Ministerpräsidenten, der in wenigen Jahren vom Heizungsmonteur zum reichsten Mann Ungarns aufstieg. Diese sagenhafte Karriere verdanke er „Gott und Viktor Orbán“, bekannte er einmal freimütig.
Gleich nach den ungarischen Parlamentswahlen im April 2018 wurde Ungarns letzte regierungskritische Tageszeitung, „Magyar Nemzet“, eingestellt. Sie gehörte dem Oligarchen Lajos Simicska, der sich mit Orbán überworfen hatte. Nachdem Orbáns Partei Fidesz die Wahlen gewonnen hatte, zog sich Simicska aus dem Mediengeschäft zurück.
Allerdings sinkt die Bedeutung aller gedruckten Nachrichten dramatisch: In Ungarn, einem Land mit fast 10 Millionen Einwohnern, erscheint nur mehr die Boulevardzeitung „Blikk“ mit einer Auflage über 100.000. Alle anderen Tageszeitungen drucken höchstens zwischen 15.000 und 25.000 Stück. Die Zeitungen „leben noch in der Vergangenheit“, sagt Marius Dragomir, der Leiter des Medienzentrums an der Budapester „Central European University“: „Sie werden sich schnell anpassen müssen, oder sie werden untergehen.“
Die Medien im Osten Europas kämpfen mit denselben Problemen wie im Westen: Ihre Auflagen sinken, Werbeeinnahmen gehen dramatisch zurück, Leser wandern zu Gratisangeboten ins Internet ab. Medienexperte Dragomir beurteilt die Krise des Journalismus in Mittel- und Osteuropa dennoch als viel schwerwiegender. Der wirtschaftliche Druck werde durch Regierungen verstärkt, die unliebsamen Medien durch hohe Strafen für angeblich unseriöse Berichte sowie durch Inseratenboykott in die Knie zwingen wollen. Wer sich dem Druck nicht beugt, wird als Verräter gebrandmarkt. Unabhängig und neutral zu bleiben, ist unter solchen Bedingungen für Journalisten fast unmöglich. In Polen, in der Ukraine, in Serbien oder in Ungarn werden Medien nach zwei Kategorien unterschieden: „Regierungstreu“ und „regierungskritisch“. Die Konsumenten aber vertrauen beiden nicht mehr.
Während in Deutschland 57 Prozent der Befragten öffentlich-rechtliches Fernsehen und Radio als hauptsächliche Informationsquellen nennen, sind es in den vier Visegrád-Staaten Polen, Tschechien, Slowakei und Ungarn nur 33 Prozent.
Das Interesse der Bürger an den klassischen Medien sinke im Osten viel schneller als im Westen, sagt Wojciech Przybylski, Chefredakteur des Magazins „Visegrad Insight“ und Stiftungsrat des polnischen Think tank „Res publica“. Przybylski nennt Zahlen: Während in Deutschland 57 Prozent der Befragten öffentlich-rechtliches Fernsehen und Radio als hauptsächliche Informationsquellen nennen, sind es in den vier Visegrád-Staaten Polen, Tschechien, Slowakei und Ungarn nur 33 Prozent. Hingegen informieren sich 23 Prozent der Befragten in den Visegrád-Staaten täglich oder fast täglich durch sogenannte „alternative Medien“ im Internet, also Medien, deren Berichte nicht redaktionell betreut und nicht auf ihren Wahrheitsgehalt geprüft werden. In Deutschland sind es nur 11 Prozent. Aber woher kommt diese Diskrepanz?
Erbe des realen Sozialismus
Das mangelnde Vertrauen in klassische Medien ist auch ein Erbe des realen Sozialismus. Vor dem Fall des Eisernen Vorhangs waren Zeitungen, Radio und Fernsehen in den Staaten des Warschauer Pakts Propagandainstrumente der Partei. Wer kein überzeugter Genosse war, misstraute ihnen prinzipiell. In der Übergangsphase zu Marktwirtschaft und Demokratie entstanden neue Zeitungen, Fernseh- und Radiosender. Doch das Misstrauen blieb. „Anders als im Westen, entstand im Osten niemals Loyalität zu den Medien“, erklärt Przybylski: „Eine Zeitung ist für die Leser einfach ein Produkt, nicht Ausdruck ihrer Weltanschauung.“
Erst die neuen investigativen Online-Medien können ihr Publikum auch emotional binden. „Átlátszó“ oder „Direkt36“ in Ungarn, „Aktuality“ in der Slowakei, „Hlidacipes“ (Der Wachhund) in Tschechien oder „Krik“ (der Schrei) in Serbien haben treue Leser, die regelmäßig spenden und sich häufig mit Hinweisen an Recherchen beteiligen. Doch selbst wenn diese Medien Skandale öffentlich machen, die bis in höchste Regierungskreise reichen. Es passiert: Nichts. Regierungstreue Massenmedien bleiben stumm, die Polizei ermittelt nicht, die Justiz richtet nicht. Oft lösen die ins Englische übersetzten Artikel im Ausland große Empörung aus. In den betroffenen Staaten werden sie totgeschwiegen.
Probleme mit den Regierungen haben mittlerweile auch ausländische Medienkonzerne. Als der Osten Europas die Marktwirtschaft wagte, waren sie schnell zur Stelle, um das Bedürfnis nach neuen, von der Vergangenheit unbelasteten Medien zu decken. Die Westdeutsche Allgemeine Zeitung WAZ oder Axel Springer, der Schweizer Verlag Ringier oder die österreichische Styria brachten knallige, leicht lesbare Zeitungen auf dem Markt, die schnell enorme Auflagen erreichten und entsprechend Gewinn machten. Nun aber wollen nationalistisch gesinnte Regierungen ihre „nationalen“ Medien zurück und machen den Ausländern das Leben mit Steuern und neuen Gesetzen schwer. Mit Erfolg: „Die ausländischen Unternehmen ziehen sich aus dem Medienmarkt in Mittel- und Osteuropa zurück“, stellt Marius Dragomir fest. Die WAZ gab ihre Beteiligungen in den Balkanländern auf, Axel Springer und Ringier fusionierten ihre Ostgeschäfte.
Um von der ungarischen Regierung grünes Licht für diese Fusion zu bekommen, verkaufte Ringier die renommierte regierungskritische Tageszeitung „Népszabadság“ an einen Österreicher, der sie kurze Zeit später einstellte und die Redaktion auf die Straße setzte. Ungarns größte unabhängige Zeitung verschwand über Nacht vom Markt.
Die ausländischen Medienunternehmen setzen nun ganz auf Online only. Investiert wird in den Kauf von Internet-Marktplätzen für Autos und Immobilien sowie in digitale Jobbörsen. Aber die neuen Zeiten lassen auch die Nachfrage nach kleinen, unabhängigen Online-Medien wachsen. Wie zum Beispiel nach der slowakischen Internet-Zeitung aktuality.sk. In der Redaktion von aktuality.sk in einem grauen Bürohaus am Stadtrand von Bratislava gehen heute Journalisten aus ganz Europa und den USA ein und aus. Der Eingang wird von Polizei und einer Security-Firma bewacht. An einem Schreibtisch hier arbeitete Ján Kuciak. Gemeinsam mit Kollegen in Tschechien und Italien recherchierte der junge Journalist über Verbindungen der italienischen Mafia zur slowakischen Regierung. Irgendjemanden muss er dabei sehr gestört haben. Am 25. Februar wurden Kuciak und seine Verlobte Martina Kušnirová in ihrem Haus erschossen. Seither herrscht Ausnahmezustand in der Redaktion und im ganzen Land. „Selbst in den von Korruption und Gewalt geprägten 1990er Jahren wurden Journalisten bei uns bedroht oder auch verprügelt, aber nicht umgebracht“, sagt der slowakische Schriftsteller Michal Hvorecký.
„Selbst in den von Korruption und Gewalt geprägten 1990er Jahren wurden Journalisten bei uns bedroht oder auch verprügelt, aber nicht umgebracht“
Das brutale Verbrechen löste eine Regierungskrise aus, führte aber auch zur Solidarisierung unter slowakischen Journalisten. „Konkurrenz gibt es nicht mehr, wir arbeiten alle zusammen“, sagt die Fernsehjournalistin Lydia Kokavcová. Wie wichtig die Unterstützung von Kollegen ist, hat Kokavcová selbst erlebt. Sie arbeitet für „Reporteri“, der einzigen investigativen Sendung des öffentlich-rechtlichen Fernsehens RTVS. Im Jänner 2018 verkündete der Fernsehdirektor überraschend die Einstellung wegen zu hoher Kosten. Die betroffenen Journalisten vermuteten jedoch, dass sie zu kritisch waren. Und die Zivilgesellschaft reagierte: Journalisten, Künstler, Wissenschaftler protestierten lautstark für die Fortsetzung von „Reporteri“. Der Druck wurde so stark, dass der Fernsehdirektor die Einstellung in eine mehrmonatige Unterbrechung umwandeln musste.
Trotz solcher kleinen Erfolge bleibt die Lage der öffentlich-rechtlichen Sender in Mittel- und Osteuropa schwierig. Anders als in Österreich, Deutschland oder der Schweiz liegen ihre Marktanteile weit hinter den großen privaten Sendern. Diese aber bieten entweder gar keine Nachrichten oder höchstens „Sex & Crime“. Damit treiben sie Einschaltquoten in die Höhe und umschiffen Konflikte mit den Regierungen. Denn diese würden nur allzu gerne mit wirtschaftlichen oder rechtlichen Hebel die Privaten unter Kontrolle bringen. Polens Regierung plante 2017 ein Gesetz, das Medienbeteiligungen ausländischer Unternehmen auf 15 bis 20 Prozent beschränken sollte. Das hätte vor allem das amerikanische Scripps Network getroffen, das seit diesem Jahr zum Discovery-Konzern gehört und in Polen neben dem „Discovery Channel“ den Nachrichtensender TVN24 betreibt. Nach Protesten und Interventionen aus den USA wurde das Gesetz wieder verworfen. Doch das Imperium schlug zurück: Im Dezember 2017 verurteilte die staatliche Medienaufsicht TVN24 zu einer hohen Geldstrafe wegen Förderung von Propaganda und Gefährdung der öffentlichen Sicherheit. Der Sender hatte über Proteste gegen die Regierung berichtet.
Nationalistische Stimmung und Nationalstolz
Der nationalistischen Stimmung können sich jedoch weder öffentlich-rechtliche, noch private Sender entziehen. Die höchsten Quoten erreichen in der Slowakei ein Ratespiel namens „Ich liebe die Slowakei“ und der Wettbewerb „Das Land singt“, in dem Chöre in traditionellen Trachten die Schönheit der Heimat besingen. Vor einem Jahrzehnt wären solche Sendungen kaum erfolgreich gewesen, sagt die Journalistin Lydia Kokavcová, „aber heute können sich die Menschen in einer globalisierten Welt nicht mehr orientieren. Sie suchen ihre Wurzeln, sie wollen wieder stolz auf ihre Nation sein.“
Wenn sich Regierungen oder Staatspräsidenten als einzige legitime Vertreter der Nation sehen, wird Kritik an ihnen zum Vaterlandsverrat laut. Dann können Journalisten selbst von den ersten Männern im Staat öffentlich verächtlich gemacht, für vogelfrei erklärt werden. Bei einem Treffen mit Wladimir Putin erklärte der tschechische Präsident Milos Zeman: „Es gibt zu viele Journalisten. Man müsste sie liquidieren.“ Der mittlerweile zurückgetretene slowakische Regierungschef Robert Fico beschimpfte Journalisten als „schmutzige, antislowakische Prostituierte“. Dennoch sieht die amerikanische NGO „Freedom House“ Tschechien und die Slowakei bei der Pressefreiheit noch im grünen Bereich. Polen hingegen führte im Bericht 2017 die Statistik der „größten Rückschritte“ an. In der jährlichen Statistik von „Reporter ohne Grenzen“ schneidet die Pressefreiheit in Polen, Serbien oder Bosnien-Herzegowina zwar schlecht ab, aber immer noch etwas besser als in Ungarn – und deutlich besser als im EU-Land Kroatien.
Hat sich die Sicherheitslage seither verbessert? Nein, sagt der kroatische Journalist Zeljko Peratović. Er bekam für seine Recherchen über kroatische Kriegsverbrechen von Reporter ohne Grenzen den „Press Freedom Award“, wurde in seiner Heimat aber von Polizei und Kriminellen so massiv bedroht, dass er ins Schweizer Exil ging. Eine Rückkehr will sich der 51-jährige Peratović derzeit nicht vorstellen: „Weder könnte ich genug verdienen, um zu überleben, noch könnte ich unabhängig arbeiten.“ Zwar gebe es heute mehr Medienprodukte als vor zehn Jahren, aber die Qualität der kroatischen Medien habe sich massiv verschlechtert: „Das Infotainment setzt sich durch.“
Traditionshäuser versus “innovative Medienprojekte”
Als kroatisches Erfolgsmodell gilt der Youtube-Kanal „JoomBoos“, der zur größten Boulevardzeitung des Landes, „24 sata“ (24 Stunden), gehört. Im vergangenen Jahr wurde das Projekt in den USA als „weltweit innovativstes Medienprojekt“ ausgezeichnet. Der Eigentümer von 24 Sata, der österreichische Styria-Verlag, stellte einen deutschsprachigen Spin-off ins Netz. Mit klassischen Medien hat „JoomBoos“ gar nichts mehr zu tun. Die Seite ist ein Spielplatz für Influencer und solche, die es noch werden wollen. Es geht um Frisuren, Reisen, Prominente oder die größte Pizza der Welt. Ganz ähnlich funktioniert „Noizz“, das digitale Medienservice“ von Ringier Axel Springer. Es versorgt die „Generation C“ der jungen, gut vernetzten Städter mit Berichten über Mode, Musik, Lifestyle und Showbiz. Politik, Wirtschaft kommen nicht vor. Noizz-Seiten gibt es in Varianten für Polen, Serbien, Rumänien und der Slowakei.
Traditionelle Medien könnten ihre Rolle als kontrollierende Gewalt im Staat nicht mehr wahrnehmen, das rasante Wachstum der sozialen Medien setze die Gesellschaften purer politischen Propaganda aus, warnt Wojciech Przybylski: „Mitteleuropa ist diesem gefährlichen Phänomen noch viel mehr ausgesetzt, als die USA oder andere EU-Partner“. Das tschechische Radio erstellt jedes Jahr einen Vertrauensindex in die Medien und kommt jetzt zu einem dramatischen Ergebnis: Hatten 2006 noch über 50 Prozent der Konsumenten Vertrauen in Zeitungen, waren es 2016 nur mehr 30 Prozent. Einen ähnlich starken Vertrauensverlust erleben Fernsehen und Radio in Tschechien.
In der Gruppe der 15 bis 19-jährigen informieren sich in Tschechien 71 Prozent nur mehr im Internet und dort vor allem über Soziale Medien. „Sie bekommen falsche Nachrichten von unseriösen Webseiten und verbreiten diese ungeprüft weiter“, sagt der Politologe Vojtech Bruk. Um die Jugend über Manipulation und Desinformation aufzuklären, hat der 26-jährige Bruk gemeinsam mit ehemaligen Studienkollegen die Initiative „Zvol si info“ (Wähle deine Infos) gegründet. In einer PowerPoint-Präsentation erklären sie die häufigsten Methoden von Manipulation und zeigen Beispiele. Seit vergangenem Jahr bieten sie den Vortrag tschechischen Schulen an, und sind immer noch über die enorme Nachfrage überrascht: „Viele Schüler wollen wissen, wie sie mit Freunden reden können, die fake news für Wahrheit halten“, sagt Bruk.
Gemeinsam mit Wissenschaftlern der Uni Brünn hat „Zvol si info“ das „Beste Buch über Fake News“ herausgebracht – eine Anleitung zum Erkennen und Abwehren von Desinformation. Tschechische Schauspieler reisen durchs Land und lesen in Bibliotheken aus dem Buch vor. „Wir wollen niemanden vorschreiben, was er zu lesen hat“, sagt Vojtech Bruk. „Wir sagen nur: Seid kritisch.“
Dieser Text ist unter der Creative Commons Lizenz veröffentlicht: (CC BY-NC-ND 3.0). Der Name der Autorin/Rechteinhaberin soll wie folgt genannt werden. Autor: Bernhard Odehnal/erstestiftung.org.
Titelbild: Zeitungskiosk in Budapest. Foto: (CC BY-NC-ND 2.0) flickr/Richard Ricciardi.