“Der Westen muss von der ganzen Welt lernen”
Der Ökonom Felwine Sarr meint, die vorherrschende Form der Wirtschaft sei zu überwinden und neu zu erfinden.
Afrikas Chance liegt darin, die Fehler des Westens zu vermeiden, und auf ein Wirtschaftsmodell zu setzen, das auch soziokulturelle Bedürfnisse erfüllt. Davon ist der senegalesische Ökonom Felwine Sarr, der nächste Woche zu einer Diskussionsveranstaltung nach Wien kommt, überzeugt. Umgekehrt müsse der Westen vom Rest der Welt lernen, etwa, was eine nicht-zerstörerische Beziehung zur Natur betrifft.
Einer breiteren Öffentlichkeit wurde Sarr vor allem durch sein 2016 (in deutscher Übersetzung 2019) erschienenes, programmatisch betiteltes Buch Afrotopia bekannt. Darin entwirft er ein Gedankengerüst für ein Afrika, das sich von der Allmacht der Ökonomie in allen Lebensbereichen befreit und die forcierte Verwestlichung durch die Kolonisierung des Kontinents abwirft.
Es gelte, ein ganzheitliches ökonomisches Modell zu wählen, das die Bedürfnisse der Menschen und deren Beziehungen untereinander wieder stärker berücksichtigt. Denn in 35 Jahren, so Sarr, werde Afrika ein Viertel der Weltbevölkerung stellen und den höchsten Anteil an Einwohnern zwischen 15 und 45 Jahren aufweisen. “Dieses demografische Gewicht und diese Vitalität werden das gesellschaftliche, politische, wirtschaftliche und kulturelle Gleichgewicht des Planeten verschieben”, heißt es in Afrotopia.
“Ein besseres Verständnis der Verhaltensgrundlagen der Akteure, das heißt ihrer Psychologie, ihrer Kultur und ihrer gesellschaftlichen Realitäten, würde eine effizientere Wirtschaftspolitik ermöglichen”, so der Ökonom. Im Kern geht es dem Professor der Wirtschaftswissenschaften an der Gaston-Berger-Universität in Saint-Louis (Senegal) darum, von der Überbetonung ökonomischer Messzahlen wie dem Bruttoinlandsprodukt oder dem Einkommen wegzukommen und sich stärker an nicht-materiellen Werten zu orientieren. Schließlich wirke sich die Kultur auf Wahrnehmungen, Einstellungen, Investitions- und Spargewohnheiten sowie auf individuelle und kollektive Entscheidungen aus. Damit, argumentiert Sarr, hänge die wirtschaftliche Effizienz eines ökonomischen Systems stark mit der Angepasstheit des Systems an seinen kulturellen Kontext zusammen.
Entsprechend fordert der Experte im Interview mit Mario Wasserfaller von der APA, das Ökonomische aus dem Sozialen zu vertreiben und nicht alle Bereiche der Gesellschaft zu kommerzialisieren. Denn die vorherrschende Form der Wirtschaft sei nicht natürlich, sondern ein “sozio-historisches Produkt”. Sie könne daher “überwunden und neu erfunden werden”:
Der Titel Ihres Vortrags in Wien lautet: “Wie lässt sich ein ganzheitliches Konzept für den Wohlstand vieler anstatt nur einiger weniger umsetzen?” Wie würden Sie Ihre Kernthese dazu in wenigen Sätzen umreißen?
Der Grundgedanke ist es, sich zu fragen, wie man zum ursprünglichen Ziel der Wirtschaft zurückkehren kann, die, entstanden aus der Moralphilosophie, nach einer Antwort auf die Frage suchte, wie man das Wohlergehen einer möglichst großen Anzahl von Menschen sicherstellen könne. Die Wirtschaft, als Ordnung der Mittel, hatte einen ethischen Zweck. Es geht nun darum, diese Zweckbestimmung wieder zu finden.
Felwine Sarr
Felwine Sarr (47) ist ein senegalesischer Sozialwissenschafter, Schriftsteller und Musiker. Seit 2009 ist er Professor für Ökonomie an der Gaston-Berger-Universität in Saint-Louis (Senegal). Sein bekanntestes Werk ist Afrotopia, in dem er sich für eine Neuerfindung Afrikas und einer radikalen Loslösung von der postkolonialen Vergangenheit des Kontinents ausspricht. 2018 verfasste Sarr gemeinsam mit der französischen Kunsthistorikerin Bénédicte Savoy im Auftrag von Frankreichs Präsident Emmanuel Macron einen wissenschaftlichen Bericht über die Restitution von Kolonialkunst.
Foto: © Antoine Tempé
In Ihrem Buch Afrotopia kritisieren Sie die Hegemonie der Ökonomie über alle Lebensbereiche. Wie könnte man diese “Alleinherrschaft” aufbrechen – zum Wohle aller?
Zuallererst muss das Ökonomische aus dem Sozialen vertrieben werden. Vor allem soll ihm der richtige Platz zugewiesen werden. Es dürfen nicht alle Bereiche der Gesellschaft kommerzialisiert werden. Wir brauchen gemeinsame, nicht privatisierte Ressourcen für die Nutzung und den Nutzen aller. Und zu guter Letzt dürfen die Wertkategorien der Wirtschaft nicht auf alle Bereiche menschlicher Beziehungen angewendet werden.
Sie beschäftigen sich darin auch mit alternativen ökonomischen Modellen, die stärker auf kulturelle und psychologische Faktoren Rücksicht nehmen – wie etwa die relationale Ökonomie. Wie könnte das in der Praxis funktionieren – und haben Sie dafür ein Beispiel?
Das Hauptprinzip der materiellen Ökonomie ist der Austausch. Der gründet zunächst auf der Herstellung einer Beziehung. Und diese ist produktiv, wenn sie auf Vertrauen basiert. Ohne Vertrauen gibt es kein funktionierendes Finanzsystem. Das wichtigste Gerüst der materiellen Ökonomie ist die Beziehungsökonomie. Alle sogenannten informellen Volkswirtschaften in Süditalien, Benin und Mexiko im Senegal basieren zuallererst auf dieser Beziehungswirtschaft, die Beziehungen herstellt, auf denen der materielle Austausch beruht.
Damit solche Modelle funktionieren, müssten viele ideologische und gesellschaftliche Grenzen überwunden werden. Halten Sie das in der heutigen Zeit für realistisch?
Dies ist ein Prozess und eine Arbeit, die man zuerst im erkenntnistheoretischen Raum angehen muss. Um darauf hinzuweisen und zu zeigen, dass diese Form der Wirtschaft, die wir erleben, ein sozio-historisches Produkt ist. Sie ist nicht natürlich. Sie kann daher überwunden und neu erfunden werden. Sie hat eine bestimmte Lebensdauer. Bei dieser Arbeit muss man sich auch durch das Imaginäre bewegen, in der Lage sein, sich eine lebendige integrierte Wirtschaft vorstellen zu können, die sich positiv auf die Umwelt und die sozialen Beziehungen auswirkt.
Sie sprechen sich immer wieder gegen die kritiklose Übernahme westlichen Gedankenguts in Afrika aus. Was kann aus Ihrer Sicht der Westen (Europa) von Afrika lernen?
Der Westen kann und muss nicht nur von Afrika, sondern von der ganzen Welt lernen: Kenntnisse, Fertigkeiten und Einstellungen, eine nicht-zerstörerische Beziehung zur Natur, soziale Fähigkeiten, die es ermöglichen, Unterschiede zu integrieren, die Gemeinschaft zu erweitern, Formen der Wiedergutmachung, etc. Die Archive der Welt sind reich an Wissensressourcen, und es wäre schade, diese zu nicht zu beachten – in Anbetracht dessen, dass jetzt das einzig gültige Archiv jenes ist, das der Westen in den letzten fünf Jahrhunderten hervorgebracht hat.
Viele Menschen flüchten nach wie vor aus verschiedensten Gründen aus Afrika nach Europa. Welche Entwicklungen in Afrika machen Ihnen dennoch Hoffnung für eine bessere Zukunft?
85 Prozent der Migrationsbewegungen Afrikas finden innerhalb des Kontinents statt. Die Afrikaner begeben sich aus den gleichen Gründen in Migration wie alle anderen, aber hauptsächlich innerhalb des afrikanischen Kontinents. Für dieses Phänomen gibt es geopolitische, wirtschaftliche und klassisch-symbolische Erklärungen. Ich möchte deswegen keine Panik verbreiten. Darüber hinaus sollte allen das Recht auf Mobilität gewährt werden. Die Herausforderungen, denen sich der Kontinent gegenübersieht, werden in einem internationalen Umfeld angegangen, das für ihn ungünstig ist durch die im Bereich der Wirtschaft und Politik bestehenden Asymmetrien. Eine größere globale Gerechtigkeit in diesen Bereichen wäre hilfreich. Er (der Kontinent) wird jedoch nicht nur diese Herausforderungen bewältigen, sondern auch als Versuchslabor für neue gesellschaftliche, wirtschaftliche und politische Formen fungieren, für ein Mehr an Menschlichkeit.
Seit dem Erscheinen von Afrotopia sind beinahe vier Jahre vergangen und die Welt hat sich seither in vielerlei Hinsicht transformiert. Würden Sie heute die eine oder andere Ihrer Thesen ergänzen oder aktualisieren?
Es gibt nicht viel zu ändern. Die Welt ist nicht besser geworden und die Afrotopia-Thesen scheinen mir noch aktuell.
Erstmals publiziert am 18. November 2019 auf APA Science.
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