Die Ermöglichung
In einer Welt voller Siris und Alexas blühen Missverständnisse, weiß Wolf Lotter.
Macht sich der Fortschritt selbständig? Und wie sieht es eigentlich mit uns aus?
Wer Visionen hat, braucht vielleicht einen Arzt – aber um sicherzugehen, ob was dahintersteckt, einen Fernseher oder ein Kino. Von dort aus lässt sich gut feststellen, was es mit der verbreiteten Auffassung zur Digitalisierung und Künstlichen Intelligenz auf sich hat: Dass wir Menschen, weil fehlerhaft, sehr bald schon von selbstlernenden Maschinen und Robotern ins Ausgedinge geschickt werden.
Das Mittel der Wahl wäre hier Stanley Kubricks 2001: Odyssee im Weltraum aus dem Jahr 1968. Darin fliegt die Besatzung des Raumfrachters Discovery von der Erde zum Jupiter. Während der Reise ist die Besatzung bis auf zwei Astronauten – David Bowman und Frank Poole – im Tiefschlaf. Darüber, wie über alle anderen Details der Raumfahrt, wacht der künstlich intelligente Supercomputer HAL 9000. Die Abkürzung steht für „Heuristisch programmiertes Algorithmisches System“. Der Rechner entscheidet nicht nur nach starren Regeln, die der Code vorgibt. Er kann sich an Lösungen herandenken, so wie Menschen das tun. Heuristiken sind Faustregeln, die man im Alltag einsetzt, wo man nie genug Informationen hat, um optimal zu entscheiden, und wo man stets ein wenig unter Druck steht, um die beste, ideale Lösung zu finden. Nicht durch Perfektion kommen wir voran, sondern durch Experiment. Versuch macht klug. Dabei kann natürlich auch mal was danebengehen.
Tipping Point Talk #3 – Möglichkeit
Im Jahr 2019 feiern Erste Bank und Sparkassen, sowie die ERSTE Stiftung das 200-jährige Jubiläum der Sparkassenidee: Sie war in Zeiten von Industrialisierung und Urbanisierung sozial und wirtschaftlich, sie war innovativ und kühn. Was erzählt uns die Sparkassenidee heute im Jahr 2019?
Der Journalist und Autor Wolf Lotter begleitet in diesem Jahr die vier Tipping Point Talks, eine Veranstaltungsreihe zu den Themenfeldern Identität, Normativität, Möglichkeit und Kühnheit mit jeweils einem Essay. In diesem Text denkt er zu Möglichkeit nach.
Im Film macht HAL 9000 einen Fehler. Das aber zerstört das Vertrauensverhältnis zwischen der Besatzung und dem Computer. Bowman und Poole entschließen sich, ihm den Stecker zu ziehen. Doch HAL reagiert darauf aggressiv. Er tötet Poole und liefert sich mit Dave Bowman ein Duell auf Leben und Tod. Die „Mission“, das System, so betont HAL es immer wieder, steht über allem. Wäre er ein Mensch, man würde den Computer wohl einen Technokraten nennen. Er tut nur seine Pflicht. Bowman aber improvisiert, er denkt sich an die Lösung seines Dilemmas heran. Dadurch gelingt es ihm, dem Computer das Handwerk zu legen. Das Motto dieser Szene hat Immanuel Kant festgehalten: Sapere Aude. Habe den Mut, dich deines eigenen Verstandes zu bedienen. Nur das bringt uns voran.
Die Moral der Geschichte ist klar. Erstens: Maschinen, also auch Computer, sind unser Werkzeug. Zweitens: In jeder neuen Situation gewinnt, wer sich auf das Herandenken einlässt, also nach Lösungen sucht und nicht nach Problemen. Als der Film 1968 erschien, war das klar. Die Beat-Pop-Jugend-Kultur hatte sich selbstbewusst ins Spiel gebracht. Die „68er“ forderten Selbstbestimmung. Zukunft war eine Wahlmöglichkeit. Es kommt drauf an, was man draus macht. In einer Welt voller Siris und Alexas aber blühen die Missverständnisse.
Die Digitalisierung ist ein weites Feld – und trotzdem nicht mehr als ein Teilabschnitt der Automatisierung. Wir Menschen bauen auf sie, seit wir Werkzeuge und Verfahren erdenken. Seit Beginn der Industrialisierung hat die Automatisierung aber richtig Fahrt aufgenommen. Der Deal klingt ganz einfach: Automaten erledigen die schwere Arbeit und die monotonen Routinen. Wir Menschen hingegen denken, lösen Probleme also kreativ und originell. Weil dieser Prozess aber nicht einheitlich, sondern höchst unterschiedlich schnell abläuft, gibt es viele, die noch in der Welt der Routine leben und von ihr abhängig sind – materiell und kulturell – Modernisierungsverlierer und Modernisierungsgewinner. Wie hält man die Zahl der Verlierer so klein wie möglich? Wie baut man den Fortschritt so, dass er barrierefrei ist? Und welche Vision brauchen wir, damit ein Wort wie Fortschritt nicht, wie heute, den meisten Angst, sondern wie Zuversicht gibt? Wie können wir uns ermutigen, nach vorne zu gehen?
Im Jahr 2013 erschien die Studie The Future of Employment von Benedikt Frey und Michael Osborne. Darin versuchten die Forscher im Auftrag der Oxford Martin School die Auswirkungen von Robotik und Digitalisierung festzustellen. Bis zu 47 Prozent aller Arbeitsplätze in den USA, so das Ergebnis, würden sich mit verfügbarer Technologie ersetzen lassen. In einer Adaption der Studie auf die Verhältnisse in Deutschland waren es sogar 59 Prozent aller Jobs, die sich im Zuge der Digitalisierung und mit den heute erkennbaren technischen Mitteln einsparen ließen. „Seit der Veröffentlichung“, so merkten die Verfasser der deutschen Adaption im Jahr 2018 an, „tobte eine geradezu religiöse Debatte über die möglichen Folgen von Automatisierung und Digitalisierung für den Arbeitsmarkt“.nach www.ing-diba.de, Februar 2019 abgerufen
Die Studie benennt den größten Feind des Fortschritts und der Transformation: Die größten „Jobverluste“ drohen dort, wo sich wiederholende Arbeiten den größten Anteil an einer Tätigkeit haben – etwa bei „Bürotätigkeiten“ oder „Sachbearbeitern“, deren Entscheidungen meist durch feste Regeln der Organisation vorgegeben sind. Akademiker hingegen müssen kaum fürchten, durch die Digitalisierung arbeitslos zu werden. Das liegt einfach daran, dass sie gelernt haben, zu lernen und zu entscheiden – die Voraussetzungen für selbständiges Handeln also. Das sind Schlüsselqualifikationen für die Wissensgesellschaft, in der Arbeit sich immer weniger durch Wiederholung, sondern lernendes Erschließen – Herandenken – ausdrückt.
Es ist also eher eine heute als Nebensache betrachtete Eigenschaft „der Akademiker“, die sich als wesentlich für ihren Erfolg in der Wissensgesellschaft entpuppt: Die Fähigkeit, selbstbestimmter und selbständiger zu arbeiten als andere. Dafür muss man nicht studiert haben. Natürlich können das alle, die kreativ und weitgehend weisungsfrei tätig sind, Handwerker oder Künstler beispielsweise. Der Wissensarbeiter, so hat es Peter Drucker sinngemäß formuliert, weiß über seine Arbeit mehr als sein Chef – er ist sozusagen die Antithese der Entfremdung, der Blackbox, die vor der Komplexität kapituliert. Der Wissensarbeiter hat gelernt, originell Probleme zu lösen. Nicht dem Digital Native gehört die Zukunft, sondern dem Creative Native, der den ganz selbstverständlichen Anspruch erhebt, dass die Technik ihm dienen, ihm nutzen soll, seinen Interessen wie auch jenen der Gemeinschaften, die er mitbegründet und weiterentwickelt.
Nicht dem “Digital Native” gehört die Zukunft, sondern dem “Creative Native”.
Das alles ist ein gewaltiger Bruch mit der Kultur und Realverfassung der Industriegesellschaft, die bis heute unser politisches und soziales System dominiert. Die alten Erfolge bestanden ja gerade in Gleichförmigkeit, Bürokratie, Routinen und Normen. Sie bauten auf Vereinheitlichung, nicht auf Differenz. Aber sogar die neue Industrie, die man „Industrie 4.0“ nennt, ist nichts weiter als eine personalisierte Produktion. Es geht nicht mehr um Masse und Einheit. Es geht um die Erfüllung individueller Bedürfnisse. In saturierten Märkten geht auch gar nichts anderes als: Jeder nach seinen Möglichkeiten, jeder nach seinen Bedürfnissen. Die Schlüsselqualifikation für die Wissensgesellschaft heißt Entscheidungsfähigkeit – dem Ergebnis des Selbstständigen Denkens.
Die Pflichtlektüre aller Digitalisierer wie auch jener, die sich vor deren Konsequenzen fürchten, liegt vor: Hannah Arendts Vita Activa oder Vom tätigen Leben, in dem die großen Denkerin uns deutlich machte, was Arbeit ist und was – durchaus in Abgrenzung dazu – den Menschen ausmacht. „Arbeit“ definiert Arendt als unterste Ebene aller Tätigkeit, die Auseinandersetzung mit der Natur, die Nahrungsmittelproduktion und alles, was zum Erhalt des täglichen Daseins dient. Es ist eine Welt der einfachen Dinge, die zusehends durch die Automation bestimmt wird. Dem folgt die Welt des „Herstellens“, also das, was Menschen unabhängig von der Natur zu schaffen imstande sind, Dinge wie Ideen, Kunstwerke, aber eben auch Werkzeuge, Roboter, Prozesse und Algorithmen. Die höchste Form der Tätigkeit aber ist mit Arendt das Handeln, die Welt der sozialen Beziehungen, und „die einzige Tätigkeit der Vita Activa, die sich ohne die Vermittlung von Materie, Material und Dingen direkt zwischen Menschen abspielt“, wie Arendt schreibt.
Nichts in dieser Aufstellung ist verzichtbar, aber die Prioritäten sind – das wird immer offensichtlicher – falsch gesetzt. Arendt warnte vor sechs Jahrzehnten schon vor den absehbaren Folgen. In der Industriegesellschaft – und damit auch in der gegenwärtigen Konsumgesellschaft – geht es vorwiegend darum, dass Menschen arbeiten und konsumieren. Das Dilemma besteht darin, dass die Automatisierung so erfolgreich ist wie sie ist – und Arbeit im Sinne routinierter Tätigkeit allmählich ausstirbt. Wer aber sein Selbstwertgefühl fast ausschliesslich aus der Erwerbsarbeit zieht, wie es typisch ist für den Menschen der alten Arbeitskulturen, gehört damit ganz automatisch zu den Modernisierungsverlierern. Es lässt sich nicht anders machen, macht uns Arendt klar: Je wirksamer die Automatisierung werde, umso größer auch der Katzenjammer: „Was uns bevorsteht, ist die Aussicht auf eine Arbeitsgesellschaft, der die Arbeit ausgegangen ist, also die einzige Tätigkeit, auf die sie sich noch versteht“, schreibt die Denkerin.
Heute ist offensichtlich, wovor Arendt vor mehr als einem halben Jahrhundert warnte. Es geht um die Einlösung eines alten Versprechens: Für jeden das Richtige. Genau das sind die Hausaufgaben unserer Zeit. Die Technologie nutzen, und von der Digitalisierung, ein oft schwammiger Begriff, klaren, konkreten Nutzen fordern. Es genügt nicht, mitzumachen. Jeder muss auch erkennen, was ihm der Fortschritt nützt. Denn was uns bleibt, ganz gleich, welche Tätigkeit wir bisher ausgeübt haben, ist individuelle Tätigkeit. Selbst denken, selbst entscheiden, ein eigenes Leben leben. So haben sich das viele mit dem Paradies auf Erden nicht vorgestellt, noch nicht mal mit der Emanzipation, dem Versprechen der Aufklärung: Beides ist harte Arbeit. Wir müssen lernen, selbstbestimmt zu leben.
Es geht um die Einlösung eines alten Versprechens: Für jeden das Richtige. Genau das sind die Hausaufgaben unserer Zeit. Die Technologie nutzen, und von der Digitalisierung klaren, konkreten Nutzen fordern.
Nun gilt auch hier der Satz aller Transformation: Wer die Regeln brechen will, muss sie erst mal kennen. Um aus der Dystopie der Digitalisierung eine positive Vision zu machen, braucht es ein breites Bildungswerk. Es besteht heute nicht darin, möglichst viel kurzfristige technische Fertigkeiten zu erlernen – etwa Programmieren – also sich ganz nach Art des industriellen Bildungssystems auf reproduzierbares Wissen zu konzentrieren. Es geht darum, selbständiges Denken zu fördern und selbstbestimmtes Leben zu ermöglichen. Die Gesellschafter eine Zivilgesellschaft müssen wissen, wie ihre gemeinsame Unternehmung funktioniert – und die Werkzeuge dazu, jedenfalls grundlegend. Es geht also darum, Zusammenhänge zu verstehen, um selbstbestimmt entscheiden zu können. Und zu dieser ersten und wichtigsten Hausaufgabe der Wissensgesellschaft gehört auch, die Technologie von ihrem hohen Ross zu holen. Sie zu entzaubern heißt: Den Fortschritt ins eigene Leben holen, in den Alltag.
Arthur C. Clarke, der brillante Autor eben auch von Space Odyssey, hat festgestellt, dass jede „fortgeschrittene Technologie von Magie nicht mehr zu unterscheiden“ sei – und das wird schnell zum faulen Zauber, wenn wir nicht fragen: Was ist der Sinn und Zweck von Technologie? Kann ich mich für – aber auch gegen – diesen Fortschritt entscheiden? Das sind keine neuen Fragen, sie sind nur seit langem unbeantwortet – und wir bekommen sie etwa in der Frage, wie wir die Digitalisierung für alle nutzen, mit Zins und Zinseszins wieder vorgelegt. Der Kern der Frage ist die alte Entfremdung, die die Industriearbeiter im 19. Jahrhundert erfuhren, als sie den Zusammenhang zwischen ihrer Arbeit und dem Ergebnis verloren. Die spätindustrielle Konsumgesellschaft hat sich an diese Entfremdung gewöhnt, aber sie bekommt ihr nicht. Wir sperren Komplexität aus und ein. Nicht nur das Digitale steckt in einer Blackbox, deren Inhalt den meisten rätselhaft ist. Das führt entweder zu Gleichgültigkeit oder Ohnmachtsgefühlen. Beides tötet die Freiheit.
Selbstbestimmung heißt, die Welt zu verstehen – jedenfalls so, dass man sich in ihr frei bewegen kann. Seine Möglichkeiten wahrnehmen. Es geht nicht darum, einfache Erklärungen für komplexe Lagen zu schaffen, sondern, wo immer es geht, andere zum Selberdenken zu ermutigen. Dazu braucht man gutes, aufrichtiges Leadership. Das ist nicht das Ausüben von Macht, auch nicht das Erziehen anderer, sondern ein nachhaltiges Ermöglichen und Ermutigen. Das erfordert auch den Mut der Ermutigten, von der Forderung zur Teilhabe weg hin zur Teilnahme zu kommen. Selbstbestimmung ist Selbstermächtigung. Und beides braucht das Selbstbewusstsein, dass ein Werkzeug eben nicht mehr als ein Werkzeug ist. Die Formel ist einfach: Bevor der Fortschritt sich selbständig macht, machen wir das lieber selbst.
Dieser Text ist unter der Creative Commons Lizenz veröffentlicht: CC BY-NC-ND 3.0. Der Name des Autors/Rechteinhabers soll wie folgt genannt werden. Autor: Wolf Lotter / erstestiftung.org. Bei Interesse an Wiederveröffentlichung bitten wir um Kontaktaufnahme mit der Redaktion.
Urheberrechtliche Angaben zu Bildern, Grafiken und Videos sind direkt bei den Abbildungen vermerkt. Titelbild: Hal 9000, Filmszene “2001: Odyssee im Weltraum” (2001: A Space Odyssey), USA/GBR 1968, Regie: Stanley Kubrick, nach Roman von Arthur C. Clarke. Foto: © NG Collection / Interfoto / picturedesk.com