Die Bürgermeisterin
Wie Tatiana Badan versucht, das moldawische Dorf Selemet vor dem Aussterben zu bewahren.
Selemet ist ein Dorf in Moldau: verlassen, verfallen, vergessen – wie viele. Ein Viertel der 5.000-Seelengemeinde lebt im Ausland, die Dagebliebenen versuchen, das Aussterben zu verhindern. Allen voran die Bürgermeisterin Tatiana Badan.
Schon früh am Morgen füllt sich Selemet mit dem blumig-süßen Duft der Akazien. Darunter mischt sich das aufdringliche Parfüm einer Frau, die in schwarzem Kostüm und auf Hackenschuhen über die holprige Dorfstraße stöckelt. Weinroter Pagenkopf, weinrote Lippen, weinrote Fingernägel, die gepflegte Arbeiterhände zieren, Oberarme wie die aller Frauen hier, die neben ihrer Hausarbeit auch Felder bestellen. Tatiana Badan ist eine starke Frau, in jeder Hinsicht. Stolz trägt sie die moldauischen Farben auf ihrer linken Brust, ein Anstecker in Flaggenform, auf dem „Primarul“ geschrieben steht: „Bürgermeister“.
Weit und breit ist niemand zu sehen, nur ein paar Gänse schnattern, überqueren die Straße, ohne Angst überfahren zu werden. Badan deutet zu ihrer Linken auf eine Ruine, die Fenster verriegelt, der Garten von mannshohem Unkraut überwuchert, an der Tür rostet ein Vorhängeschloss: „Hier lebte einmal eine vierköpfige Familie. Heute hat sie sich über ganz Europa verstreut, nach Portugal, in die Ukraine, nach Russland.“
Ein paar Schritte weiter zeigt sie auf ein Haus, dessen bessere Zeiten offensichtlich länger zurückliegen: „Tragischer Fall“, sagt sie. „Die Frau ging nach Italien, um zu putzen, und kehrte nie mehr heim. Seitdem trinkt sich ihr verlassener Mann zu Tode.“ Nicht weit davon: ein windschiefes Holzhaus. Verwitterte Fensterläden, gebrochene Zaunlatten, geborstene Scheiben. Davor ein Ziehbrunnen. Hundegebell. „Hier wohnen nur noch die Großeltern, ihre fünf Kinder leben längst im Ausland. Niemand kümmert sich um die Alten.“
„Hier lebte einmal eine vierköpfige Familie. Heute hat sie sich über ganz Europa verstreut, nach Portugal, in die Ukraine, nach Russland.“
Sieben Kilometer könnte Tatiana Badan so weitererzählen. So lang ist die Straße, die durch Selemet führt. Ein Viertel der 1.600 Häuser steht leer. Auf den ersten Blick ein Ort, der für das Aussterben des Landes steht, auf den zweiten Blick aber ein Indiz dafür, das noch nicht alles verloren ist.
Denn eine 53-jährige Bürgermeisterin versucht, ihrem Dorf die Tristesse zu nehmen, indem sie es lebenswerter gestaltet und Heimatgefühle unter den Weggezogenen weckt, damit sie vielleicht eines Tages wieder zu Rückkehrern werden. Manch einer nennt sie Visionärin. „Optimistin“, verbessert Badan, lächelt verlegen. Das Besondere an ihrer Position: Sie ist parteilos. Als unabhängige Politikerin umgeht sie damit zwar interne Querelen und bürokratischen Wahnsinn, erhält allerdings keine Rückendeckung, schon gar keine finanzielle, auch nicht vom Bezirk. Blauäugig fing sie an, Bittbriefe zu schreiben, an die norwegische NGO Norge-Moldova, die schwedische Botschaft und eine amerikanische Hilfsorganisation. Als die ersten Spenden eintrudelten, investierte sie das Geld in Projekte, die Bildung, Infrastruktur und Wirtschaft in Selemet verbesserten. So macht sie das nun seit fünfzehn Jahren.
Aus einem Bauernhaus mit rissiger Fassade taucht der fünfjährige Eugen auf, daneben seine siebzigjährige Urgroßmutter Zinaida Coptu, bei der er lebt. Jemand anderen hat Eugen nicht. Seine Mutter lebt in der eineinhalb Stunden entfernten Hauptstadt Chișinău, die Großeltern in Italien. Sie schicken jeden Cent, den sie entbehren können, nach Selemet. Dennoch tragen Eugen und seine Urgroßmutter ausgelatschte Sandalen und abgetragene Klamotten: der Junge einen schlabberigen Pullover und eine Kappe; die Frau eine Kittelschürze im Blümchenmuster, auf ihrem Kopf ein Wickeltuch. Nur ein Schneidezahn ist ihr geblieben, der immer wieder zum Vorschein kommt, wenn sie das immer selbe Wort wiederholt: schlecht!
Gesundheit? Familie? Geld? Wetter?
Alles schlecht!
Zinaida Coptu wünscht sich Regen, damit die Ernte nicht verdorrt. Dass ihre Enkelin, Eugens Mutter, mehr als einmal pro Monat zu Besuch kommt. Und dass der kleine Eugen seine Großeltern nicht nur vom Bildschirm eines Computers kennt. „In Moldau bleiben nur die ganz Jungen und die ganz Alten zurück“, sagt sie. „Wir haben nichts. Können Sie uns nicht etwas geben?“ Badan sucht nach tröstenden Worten: „Wir haben noch ein paar Kinderklamotten im Amt, Geld haben wir selbst keines.“
„In Moldau bleiben nur die ganz Jungen und die ganz Alten zurück.“
Ein paar Kilometer weiter, im Dorfzentrum und Kern von Badans Reich, zeigt sich eine Gegenwelt: Die Straße wird asphaltiert, die Zäune strahlen grün, keine zehn Jahre alte Häuser. So auch das Rathaus, darin ihr Büro, die Kantine, der Kindergarten, das Heim für Waisen und Kinder aus schwierigen Familien, die Zahnarztpraxis, der Fitnessraum. Ein Komplex fünf moderner Gebäude, ausgestattet mit Computern, Kranken- und Kinderbetten, Spielzeug, Rollstühlen. Umgeben von einem Garten mit gepflegten Blumenbeeten, Rasen und bemalten Bordsteinen, einem Spielplatz und Lauben, die Schatten spenden.
„Unser Kindergarten feiert nun bald sein zehnjähriges Jubiläum“, erzählt sie. „Während andere Dörfer sich auf Straßenbeleuchtung konzentriert haben, ging es uns um Bildungs- und Sozialeinrichtungen. Erst dann kommt die Infrastruktur und zum Schluss die wirtschaftliche Entwicklung.“ All das läuft nach einem strategischen Plan, den Badan mit Hilfe der Sponsoren erstellt hat – und an dem sie eisern festhält.
Schräg gegenüber des Rathauses, zwischen Busstation und Dorfkneipe, glänzt ein nagelneues Spiegelglas-Gebäude in der Sonne. Jahrelang hatte die Polizei Frauen von der Straße verscheucht, die Gurken und Tomaten aus ihren Gärten feilboten. Badan schrieb an die Hilfsorganisation USAid und ließ mit der Spende eine überdachte Markthalle bauen. Seitdem sind Polizei wie Frauen zufrieden. Aus Nachbardörfern erreichen die Bürgermeisterin Glückwunschbekundungen, in denen auch Neid mitschwingt.
Republik Moldau
Einst galt die Republik Moldau als Obst- und Gemüsegarten der Sowjetunion. Es war die am dichtesten besiedelte Region der ehemaligen Weltmacht. Heute steckt das Land in einer Identitätskrise, findet sich als Spielball zwischen Russland und der EU.
Gleich zwei Negativrekorde hat die Republik Moldau vorzuweisen: Einerseits ist es das ärmste Land Europas – und vermutlich auch das unbekannteste. Andererseits wandern aus keinem anderen europäischen Land mehr Menschen ab. Etwa vierzig Prozent der Bevölkerung im arbeitsfähigen Alter lebt bereits im Ausland. In den vergangenen 27 Jahren ging die Einwohnerzahl um 3,9 Prozent zurück. Schätzungen der UNO zufolge wird die moldauische Bevölkerung bis 2070 um ein Drittel schrumpfen. Gründe dafür sind – neben der hohen Abwanderungsrate – Europas niedrigste Lebenserwartung (70,7 Jahre) und sinkende Geburtenzahlen. Mit 1,2 Kindern pro Frau liegt die Fertilitätsrate unter dem EU-Durchschnitt von 1,6.
Am nächsten Tag feiert Selemet den 9. Mai, der an den Sieg über Nazi-Deutschland erinnert. Hunderte scharen sich am Hauptplatz um das Siegerdenkmal: Dorfpfarrer, Zahnarzt, drei Männer mit Gewehren, Dutzende alte Bewohner und 267 Schüler der Grundschule, die vor wenigen Jahren noch von sieben Mal so vielen Kindern besucht wurde. Die Bürgermeisterin schüttelt Hände, verteilt Küsschen, legt ihren Arm um trauernde Frauen, die ihre Männer und Söhne in Kriegen verloren haben. Nicht im Zweiten Weltkrieg, sondern in Afghanistan und der von Moldau abtrünnigen Republik Transnistrien.
Der moldauischen Hymne folgen Gewehrsalven, danach Ansprachen vom Pfarrer und von Badan. „Bleibt Patrioten“, sagt sie. „Gemeinsam können wir etwas erreichen, in der Schule, im Kindergarten und für den Rest unseres Lebens.“ Danach führen die Schüler Stücke auf, die an das Ende des Zweiten Weltkrieges erinnern: den Siegesmarsch der Roten Armee, die Rückkehr der Überlebenden zu ihren Familien, das Begräbnis der Gefallenen. Badan lacht und klatscht abwechselnd, wischt sich Tränen aus den Augen, bevor sie einen Kranz niederlegt. An jenem Denkmal, das ihr allererstes Projekt im Dorf war, nachdem sie 2003 zur Bürgermeisterin gewählt wurde. Damals grasten Kühe und Ziegen um den Betonklotz mit den Inschriften der Verstorbenen, Kinder benutzten die Fläche als Spielwiese. Badan ließ das Denkmal umzäunen und einen Park anlegen.
Nach der Feier lädt sie in die Dorfkantine ein, ein weiteres Projekt Marke Badan. Jeden Tag wird dort für alte Männer und Frauen gekocht, für Waisen und Kinder aus armen Familien. Vierzig Personen bietet der gekachelte Raum Platz, in dem sich der Geruch von Putzmittel mit dem von Hühnersuppe und Krautstrudel vermischt. Heute sitzt Badan beim Mittagessen dem Weisenrat des Dorfes gegenüber: dem Pfarrer, dem Zahnarzt und dreizehn weiteren Männern, die ihr Löcher in den Bauch fragen, manche davon mit lauter Stimme. „Wann wird die Straße endlich fertig?“, „Warum haben manche Häuser noch immer keinen Gasanschluss?“, „Wovon sollen wir nur leben?“. Badan verbirgt ihre Anspannung hinter treuherzig-warmen Augen, bevor sie zu ihrer Geheimwaffe greift. Sie holt tief Luft und: redet. In einem Schwall, geziert von einem Lächeln, unterstützt von ihren Händen.
Im Kern wiederholt sie die immergleiche Antwort, formuliert sie um wie eine altgewitzte Politikerin, lässt keine Zwischenfragen zu und labert – so lange, bis die Männer still sind. Das ist ihr Erfolgsrezept. Schweigen die Anwesenden, weil sie Badans kluge Argumente überzeugen, weil sie von der Frau genervt sind oder weil ihnen der Kopf dröhnt? Jedenfalls funktioniert die Methode – seit fünfzehn Jahren. Denn Badan spricht nicht nur, sie handelt auch, sucht nicht nach Ausreden, sondern nach Lösungen. Und: Niemand lässt sich auf Diskussionen mit dieser Frau ein, zumindest nicht, wenn er an dem Tag noch etwas vorhat. Gekürzt sagen ihre Antworten: Mit dem nächsten Geld machen wir die Straße fertig. Das eine Ende des Dorfes hat kein Wasser, dafür Gas, am anderen Ende ist es umgekehrt. Wir können nur schrittweise vorankommen, mehr Geld haben wir nicht. Zuerst Bildung und Infrastruktur, danach kümmern wir uns um das Einkommen. Bis dahin erntet, was ihr könnt, und verkauft es in der Markthalle.
Badans Tochter studiert in Amerika, ihr Sohn arbeitet in Chișinău. Zusammen mit ihrem Ehemann lebt sie in einem Haus, das sich das Paar mit einer zweiten Familie teilt. Der Hühnerstall im Garten steht leer, denn für Vieh hat sie keine Zeit mehr. Dafür parkt dort ein Traktor, den Badans Mann regelmäßig für seine Arbeit auf dem Feld nutzt.
Am Ende eines langen Tages schaufelt sie in ihrer Küche Bratkartoffeln in eine Schüssel. Weg sind die Hackenschuhe, weg das Kostüm, weg die Bürgermeisterin, zumindest äußerlich. Innerlich wird sie ihr Amt nicht los. „Ich bin zu neunzig Prozent meiner Arbeit verpflichtet.“ Dass sie nicht alle Sorgen ihrer Mitbürger bewältigen kann, kostet viel Kraft – und vor allem Zeit. Die Ehe hat darunter gelitten, auch die Beziehung zu ihren Kindern. „Ich wäre gerne wieder mehr daheim“, sagt sie, „aber es gibt niemanden, der den Job übernehmen will.“
„Margaret Thatcher“, ruft ihr Mann Valentin aus dem Wohnzimmer, nicht nur, um sie zu ärgern. Er leidet unter dem Amt seiner Frau. Im Hintergrund läuft ein Fernseher.
Dass Badans Beliebtheit in Selemet nicht leidet, beweist ihre vierfache Wiederwahl als Bürgermeisterin. Immer wieder gewann sie mit nahezu einhundert Prozent der Stimmen. 2011 trat sie als einzige Kandidatin an. Ihren größten Gegner und Kritiker hatte sie zu Hause.
„Da kann nur etwas faul sein“, ruft Ehemann Valentin von nebenan und lacht. „Besser wir laden zur nächsten Wahl eine unabhängige Beobachterkommission ein.“ Hinter der Spüle lächelt die Bürgermeisterin kurz mit.
Erstmals publiziert auf Reporterreisenmoldau.de, sowie am 30. Juni 2018 auf spiegel.de und am 14. Juli 2018 in der Wiener Zeitung.
Dieser Text ist urheberrechtlich geschützt: © Martin Zinggl. Bei Interesse an Wiederveröffentlichung bitten wir um Kontaktaufnahme mit der Redaktion.
Urheberrechtliche Angaben zu Bildern, Grafiken und Videos sind direkt bei den Abbildungen vermerkt. Titelbild: Grund zur Freude: Zwischen Pflichtterminen findet die Bürgermeisterin noch Zeit, die Geburtstagsfeier der Schuldirektorin zu besuchen. Foto: © Martin Zinggl