Die Bedeutung der Visegrád-Gruppe für die EU
Aus dem neuen Buch von Emil Brix und Erhard Busek.
Wer heute auf die Identitätspolitik der mitteleuropäischen Mitgliedsstaaten der EU blickt, der gewinnt zwar den Eindruck, dass Europa in wertkonservativer Haltung von allen als kulturelle Gemeinschaft in Abgrenzung zu „Nichteuropäern“ wahrgenommen wird, dass aber bei der Formulierung nationaler Interessen sonstige gemeinsame regionale Anliegen nicht in den Genen der derzeitigen mitteleuropäischen Politiker liegen. Wir leben in einer Region, die noch mitten in einer Zeit der nationalstaatlichen Transformation steht. Dabei ist Mitteleuropa eine Brücke zum Osten und Südosten, deren Potenzial von der Europäischen Union nicht ohne Schaden weiterhin unterbewertet werden kann.
Es mag für Westeuropäer recht anachronistisch und populistisch wirken, wenn manche Regierungen mitteleuropäischer Staaten lieber einen anti-kommunistischen als einen anti-putinistischen Kurs verfolgen. Dies hat bestenfalls den Charme von Don Quichottes Kampf gegen Windmühlen, weil heute die europäische Wirklichkeit mindestens so weit von der Gefahr kommunistischen Denkens entfernt ist, wie das damalige Spanien von den von Don Quichotte herbeifantasierten ritterlichen Gegnern, aber eigentlich handelt es sich um die Karikatur einer wirklichen Aufarbeitung der kommunistischen Vergangenheit.
Vorbehalte abbauen, Brückenfunktion stärken
Gerade die Erinnerung an rechtspopulistische und autoritäre Entwicklungen in der Zeit zwischen den Weltkriegen in Staaten wie Österreich, Polen und Ungarn sollte uns klarmachen, dass mit einem nationalpopulistischen Kurs weder innen- noch außenpolitisch nachhaltig Sicherheit zu erreichen ist. Nachdem derzeit mit der einzigen außenpolitisch relevanten regionalen Zusammenarbeit in dieser Region, der Visegrád-Kooperation, eine Gruppe besteht, die ihre Zusammensetzung im Wesentlichen mit der gemeinsamen Erfahrung mit dem Kommunismus begründet hat, würde eine Erweiterung dieser Gruppe um die Staaten Österreich und Slowenien Vorbehalte im Westen Europas abbauen, die Brückenfunktion Richtung Westbalkanstaaten stärken und insgesamt die Einflussmöglichkeiten der Gruppierung innerhalb der Europäischen Union wesentlich erhöhen.
Natürlich ist es bedenklich, dass zum Beispiel in Österreich die stärksten Befürworter einer Aufnahme in die Visegrád-Gruppe aus dem rechtspopulistischen Lager kommen und die stärksten Kritiker einer derart intensivierten Zusammenarbeit im linken politischen Spektrum angesiedelt sind. Die schlichte parteipolitische Wahrheit, dass eben Nationalisten gerne mit Gleichgesinnten zusammenarbeiten und dass progressive Parteien für eine klare Abgrenzung gegenüber illiberalen Entwicklungen eintreten, mag stimmen. Aber geht es in Europa nicht eben darum, allzu schlichte Wahrheiten kritisch zu hinterfragen und gemeinsam an der Entwicklung der Demokratie auch in Mitteleuropa zu arbeiten?
Mitteleuropa Revisited
Der hier veröffentlichte Text ist ein Auszug aus dem aktuellen Buchprojekt von Erhard Busek und Emil Brix “Mitteleuropa Revisited – Warum Europas Zukunft in Mitteleuropa entschieden wird“
1986 veröffentlichten Erhard Busek und Emil Brix das Buch „Projekt Mitteleuropa“, das eine verbindende, grenzüberschreitende Utopie in einer Welt der feindseligen Extremismen präsentierte. Für viele Dissidenten in Ostmitteleuropa war diese Idee eine Chiffre der Hoffnung gegen das von Moskau gelenkte System, bis 1989 der Eiserne Vorhang fiel.
Dreißig Jahre nach ihrem letzten Buch nehmen die beiden Polit-Kenner die Region erneut in den Fokus und kommen zu dem Schluss: heute braucht Europa ein neues Nachdenken über Mitteleuropa, um zu sich und zur Vernunft zu kommen.
Bei dem Weg der EU und der NATO nach Osten mag ja noch verständlich sein, dass Russland die „Verschiebung“ Mitteleuropas nach Osten zunehmend sehr skeptisch beurteilt, aber weniger verständlich ist, dass westliche Nachbarn wie Deutschland und Italien immer weniger politisches Interesse an dieser Region zeigen. Mit spürbarer Erleichterung sagte kürzlich der deutsche Bundespräsident Steinmeier: „Irgendwie ist unser Land im Westen angekommen.“ Selbst in Österreich ist die offizielle Außenpolitik nach 1989 davon ausgegangen, dass es den neuen Demokratien im ehemaligen Osten nur darum ging, Teil des Westens zu werden. Österreich sollte sich daher damals darauf konzentrieren, möglichst rasch selbst EU-Mitglied zu werden, dann könne es für die östlichen Nachbarn hilfreicher sein als ein „isolierter“ mitteleuropäischer Staat.
Vereinfachte Sicht auf den Osten
Dahinter stand aber eine fundamentale Fehleinschätzung über Österreichs Chancen nach dem Beitritt. Man konnte den Eindruck gewinnen, dass es Österreich darum ging, selbst Teil des Westens zu werden. Die österreichische Außenpolitik wurde damit zum Steigbügelhalter einer Politik, die Österreich ohne verlässliche Partner in Europa zurückließ. Im Nachkriegseuropa war die einseitige Orientierung auf den Westen ein Erfolgsrezept, aber sie führt heute noch zu einer vereinfachten Sicht des Ostens. Die regionale Zusammenarbeit in Mitteleuropa darf aber heute nicht mehr von der stereotypen Vorstellung eingeschränkt werden, der zufolge in Österreich nach Ende des Zweiten Weltkriegs US-amerikanische Soldaten Nylonstrümpfe verschenkt hätten, während Soldaten der Roten Armee Armbanduhren gestohlen hätten. Selbst in den baltischen Staaten wächst heute in Expertenkreisen die Erkenntnis, dass die Außenpolitik kleinere Staaten nicht ausschließlich auf die Wahl zwischen West und Ost reduziert werden sollte.
Tatsächlich ist für die Vertretung von Interessen kleinerer Staaten in Europa die regionale Zusammenarbeit innerhalb der EU von erheblicher Bedeutung. Es muss mit Partnerstaaten nicht immer eine idente Politik verfolgt werden. Aber notwendig ist ein permanenter Informationsaustausch auf Beamten- und Politikerebene, um Ressourcennachteile gegenüber großen EU-Staaten oder bestehender Regionalgruppierungen wie den Beneluxstaaten und der Nordischen Kooperation auszugleichen. Wenn innerhalb der EU Beschlüsse in „package deals“ getroffen werden, dann ist das Gewicht einer Regionalgruppe für die Durchsetzung von Interessen entscheidend.
Friedensprojekt Europäische Union
2017 wurde von den offiziellen europäischen Stellen der 60. Geburtstag der europäischen Integration, die in Rom 1957 mit den Verträgen betreffend EWG, EGKS und EURATOM begonnen hat, gefeiert. Einerseits mit Recht, denn es war eine tiefgreifende Veränderung des Kontinents. Das bleibende Ziel war und ist das europäische Friedensprojekt. Natürlich schmerzen Entwicklungen wie die Kriege beim Zerfall der Föderativen Republik Jugoslawien, die Auseinandersetzungen betreffend Moldawien und die Ukraine, aber es gibt auch gelöste Probleme wie die Nordirland-Frage, ja sogar das Südtirol-Problem.
Andere sich abzeichnende Tendenzen, wie der Brexit, die Sezessionsbestrebungen von Katalonien und ironischerweise die Entwicklung in Schottland, sind Zeichen mangelnder Kohäsion des europäischen Kontinents. Offensichtlich wird vergessen, dass die allgemeine globale Entwicklung letztlich dazu führt, dass die Europäer nur mehr 7 Prozent der Weltbevölkerung darstellen, doch immerhin über 20 Prozent der Wirtschaftskraft, aber eigentlich ihre Rolle in diesem Prozess nach wie vor nicht gefunden haben. Bei allen kritischen Kommentaren zur europäischen Entwicklung muss noch festgehalten werden, dass die Erhaltung des Friedens grosso modo gelang, dass die Erweiterung der Europäischen Union beim Zerfall der Sowjetunion eine Perspektive für den Machtblock des Warschauer Paktes darstellte und die Sehnsucht nach Teilnahme an der europäischen Integration auf dem Balkan letztlich ungebrochen ist.
Auszug aus dem Buch Mitteleuropa revisited – Warum Europas Zukunft in Mitteleuropa entschieden wird, erschienen im März 2018 bei Kremayr & Scheriau, Wien.
Dieser Text ist urheberrechtlich geschützt: © Kremayr & Scheriau / Erhard Busek, Emil Brix. Abdruck mit freundlicher Genehmigung von des Verlags. Bei Interesse an Wiederveröffentlichung bitten wir um Kontaktaufnahme mit der Redaktion.
Urheberrechtliche Angaben zu Bildern, Grafiken und Videos sind direkt bei den Abbildungen vermerkt. Infobox: Erhard Busek und Emil Brix © Manfred Weis/Kremayr & Scheriau; Titelbild: © Mark Lakomcsik/iStock.