Ich war einst Rechtsanwältin. Heute bin ich ein Opfer.
Zwanzig Jahre nach dem 11. Juli 1995, wie sollen wir uns da an “Srebrenica” erinnern? Gibt es einen neutralen Ort, von dem aus wir uns erinnern können? Aus welcher Sicht erinnere ich mich an 7/11? Aus der Sicht einer Bürgerin der Bundesrepublik Jugoslawien (die 1995 aus Serbien und Montenegro bestand), die nicht umhin kann, sich zu erinnern, dass in den ersten Jahren der Kriege im ehemaligen Jugoslawien serbische Soldaten, die von der kroatischen oder bosnischen Front nach Hause kamen, der patriotischen Presse in Belgrad berichteten, das Beste am Krieg sei “das Schießen und das Ficken” (pucanje i tucanje). Wenn ich mich als Bürgerin des heutigen Serbien an “Srebrenica” erinnere, muss ich sagen, dass trotz der Tatsache, dass eine Reihe serbischer Intellektueller immer noch auf einen “serbischen Willy Brandt” wartet, kein ehemaliger und auch der heutige Präsident die Wahrheit anerkennt, dass serbische (para)militärische Truppen am 11.7. das Massaker an mehr als 8.000 moslemischen männlichen Bürgern von Bosnien und Herzegowina verübt haben, sie scheuen sich, dies als Genozid zu bezeichnen. Jeder Versuch einer Entschuldigung endet mit der (serbischen) Behauptung , “alle Seiten”, die in den Krieg verwickelt waren, hätten gelitten, was gleichbedeutend ist mit “wir alle” waren Opfer von “anderen”.
Oder sollte ich mich aus feministischer Sicht an 7/11 erinnern und einmal mehr wiederholen, dass der Krieg im ehemaligen Jugoslawien, wie Kriege im Allgemeinen, ein geschlechtsspezifisches Unterfangen war? Aber gibt es eine einheitliche feministische Sicht? Feministische Aktivistinnen und Theoretikerinnen (sowohl im In- als auch im Ausland) schenkten dem Massaker von Srebrenica an bosnischen Männern im Jahr 1995 weniger Aufmerksamkeit als der Frage der “machtlosen vergewaltigten bosnischen Frauen”, die um 1993 feministische Kreise in zwei Lager spaltete: Die einen riefen nach einem “nationalistischen Feminismus” und unterstrichen die ethnische Herkunft der Opfer, wobei sie die Tatsache betonten, dass die Mehrheit der weiblichen Opfer Bosnierinnen und Musliminnen waren (vergewaltigt von der serbischen Armee); die andere Position wurde von jenen Feministinnen und feministischen Gruppen, vor allem aus Zagreb, vertreten, die in Vergewaltigung und Gewalt gegen Frauen ein Verbrechen gegen die Menschheit sahen.
Woran ich mich in den letzten zwanzig Jahren nach “Srebrenica” erinnern kann, ist, dass jeder aus Bosnien und Herzegowina kommende nationalistische/ethnische Bericht als Diskurs der Opferrolle formuliert oder offiziell geführt wurde. Dieser Diskurs ist eng an die Politik der Erinnerung gebunden, ja durch diese bedingt. Die bekannteste Visualisierung des Opfers, die in bosnisch-herzegowinischen, bosniakischen und ausländischen Medien kursierte – und immer noch kursiert –, ist die Darstellung der namen- und stimmlosen “Frau von Srebrenica” – Überlebende, Vertriebene, Heimatlose und Flüchtling –, die ein weißes Kopftuch trägt als Zeichen, dass sie in Trauer ist. Dieses Bild ist zweifellos stark, auch wenn es auf das ländliche Umfeld verweist. Das Problem ist, dass dieses Bild (aus den Medien) die Erinnerung an Frauen, die den Krieg überlebt haben, von denen jede ihre eigenen persönlichen und unterschiedlichen Erinnerungen an ihre Verluste hat: an männliche Familienmitglieder, die in Srebrenica niedergemetzelt wurden und deren Leichen noch nicht identifiziert sind, an ihre Unfähigkeit, am Grab der Toten zu trauern, an die fehlenden Häuser, an ihr Leben vor dem Krieg und ihre Traumata danach … entindividualisiert und verallgemeinert.
Heute lebt und arbeitet eine Reihe von Kunstschaffenden innerhalb der Grenzen des (durch das Abkommen von Dayton geschaffenen) Bosnien und Herzegowina – FilmemacherInnen, bildende KünstlerInnen und DichterInnen; gemeinsam mit einer kleineren Zahl bosnischer WissenschaftlerInnen bemühen sie sich um den Aufbau ihrer Nachkriegsgesellschaft, wobei sie sich auf eine repolitisierte Vorstellung stützen, das individuelle, persönliche Zeugnis in den Mittelpunkt stellen und die Vergangenheit des Krieges aufarbeiten: Sie bieten in ihren Arbeiten alternative Formen der Trauer – indem sie eine “Politik der Hoffnung” (Damir Arsenijević) etablieren.
Diese politisierten künstlerischen und theoretischen Gesten stellen tatsächlich die staatlich koordinierte Gedenkpolitik infrage, derer man sich bei der Gedenkfeier in Potočari am 11. Juli 2015 bediente und bedienen wird. In seinem hervorragenden Artikel „The New History of Death“ (2007) merkt Mark Jarzombek an: „Anfangs wurde die alternative Sprache des Gedenkens als Gegenpol zu den Bemühungen des Staates geschaffen, aber das ist gewiss nicht mehr immer der Fall … Heutzutage interessiert sich der Staat für Themen, die mit Traumata zu tun haben, da man die politischen Vorteile des Opfertums erkannt hat. Und das erlaubt natürlich der Metaphysik, zurück an ihren angestammten Platz zu kriechen.“
Berlin, April 2015.
Dieser Text wurde 2015 im Rahmen des Ausstellungs- und Publikationsprojekts SREBRENICA TODAY veröffentlicht, das anlässlich des Gedenkens des 20. Jahrestags des Genozids von Srebrenica und der Unterzeichnung des Dayton-Abkommens initiiert und am 11. Juli in der Gedenkstätte Srebrenica -Potočari im Rahmen der offiziellen Gedenkfeier gezeigt wurde.
Srebrenica today
Herausgeber: ERSTE Stiftung, 2015
Redaktion: Christiane Erharter
Fotografien von Dejan Petrović
Texte von Boris Buden, Erhard Busek, Slavenka Drakulić, Doraja Eberle, Haris Pašović, Bojana Pejić, Wolfgang Petritsch, Jasmila Žbanić
Unterstützt von Doraja Eberle in Kooperation mit “Bauern helfen Bauern” – Bratunac
Die Ausstellung war auch in den Räumlichkeiten der ERSTE Stiftung in Wien, im Kulturzentrum Parobrod in Belgrad, beim Europäischen Forum Alpbach und, 2016, im Philantropy House in Brüssel zu sehen. Zwanzig Jahre nach dem Völkermord lieferte SREBRENICA TODAY ein visuelles Porträt der Stadt und ihrer BewohnerInnen, das Momente des täglichen Lebens in der Stadt Srebrenica und ihrer Umgebung zeigt.
Die Ausstellung bestand aus acht Postern. Jedes von ihnen zeigte Fotoporträts der BewohnerInnen, ihren Alltag oder berufliche Aktivitäten. Diese Porträts wurden mit Texten von Persönlichkeiten aus Politik, Kunst und Kultur kombiniert.