„Wir konnten alle gemeinsam unsere Stimme erheben“

Pandemie, Protest und Polen – ein Interview mit Diana Lelonek

„Die Ökosysteme hatten einen Moment Zeit zum Durchatmen, bevor alles bald wieder seinen gewohnten Lauf nahm. Inzwischen steht uns eine größere Krise bevor.“ – Die polnische Künstlerin Diana Lelonek im Interview

Die polnische Künstlerin Diana Lelonek erforscht Beziehungen zwischen Menschen und anderen Spezies. Ihre Projekte sind kritische Antworten auf die Prozesse der Überproduktion, des unbegrenzten Wachstums und unseres Umgangs mit der Umwelt. Aus Fotografien, lebender Materie und Fundstücken entstehen interdisziplinäre Werke, die oft an der Schnittstelle von Kunst und Wissenschaft angesiedelt sind.

Diana Lelonek

Diana Lelonek (PL) wurde 1988 geboren. Sie ist Absolventin des Instituts für Fotografie an der Fakultät für Multimedia-Kommunikation der Kunst-Universität in Posen und promovierte dort in Interdisciplinary PhD Studies.
Diana Lelonek erforscht die Beziehungen zwischen Menschen und anderen Spezies. Ihre Projekte sind kritische Antworten auf die Prozesse der Überproduktion, des unbegrenzten Wachstums und unseres Umgangs mit der Umwelt. Aus Fotografien, lebender Materie und Fundstücken entstehen interdisziplinäre Werke, oft an der Schnittstelle von Kunst und Wissenschaft.
Teilnahme an mehreren internationalen Biennalen und anderen Festivals sowie an Gruppenausstellungen.

 Foto: © Yulia Krivich, im Auftrag von Szum Magazine

Diana Lelonek ist eine der Künstlerinnen und Künstler, die zur Teilnahme an der Ausstellung Slow life. Radical Practices of the Everyday im Ludwig Museum – Museum für zeitgenössische Kunst Budapest eingeladen wurden, einer Ausstellung, die aufgrund der COVID-19-Krise noch nicht realisiert werden konnte. Dieses Interview wurde ursprünglich auf einer Microsite veröffentlicht, die derzeit die physische Ausstellung ersetzt.

Wie wirkt sich die Coronavirus-Pandemie auf Ihre künstlerische Praxis und Ihr tägliches Leben aus?

Ich leide unter Angststörungen, daher ist dies keine leichte Zeit für mich. Ich mache mir wirklich Sorgen um meine Familie und die Zukunft. Während der Quarantäne in einer kleinen Mietwohnung im Zentrum von Warschau eingesperrt zu sein, war schlimm für mich.

Ich wohne neben dem Parlamentsgebäude, wo es ein starkes Polizeiaufgebot gab; jeder wurde kontrolliert. Ich habe beinahe drei Monate lang gemeinsam mit meinem Freund in einem Raum verbracht. Wir haben keinen Balkon, also habe ich einen kleinen Garten in Beschlag genommen, den ich neben unserem Wohnhaus entdeckte. Es ist ein privates Areal, weshalb es möglich war, auch während des Lockdowns dorthin zu gehen. Seit Jahren hat ihn niemand mehr genutzt. Ich beschloss, einige Pflanzen und Blumen einzusetzen. Ich traf auf eine dort lebende Katze und begann sie zu füttern. Dieser Garten und die Katze haben mir, denke ich, geholfen, diese schwierige Zeit zu überstehen.

Die politische Situation in Polen während der COVID-19-Krise ist beängstigend. Am 15. April, während der Quarantäne und inmitten der Pandemie, beschloss die polnische Regierung, für die Einführung eines kompletten Abtreibungsverbots zu stimmen. Normalerweise gehen bei jedem Versuch, dieses schreckliche Gesetz durch das Parlament zu bringen, Tausende Menschen auf die Straße, um dagegen zu protestieren.

Aber dieses Mal, während des Lockdowns, war jede Art von Protest untersagt. Ungeachtet dessen stießen die Frauen auf einige Gesetzeslücken und versuchten trotzdem zu protestieren: etwa vom Auto aus oder mit Transparenten, die sie hochhielten, während sie in einer langen Schlange vor einem Geschäft neben dem Parlamentsgebäude warteten.

Für mich ist das Wichtigste bei Demonstrationen gemeinsam die Stimme zu erheben, aber das war aufgrund des Versammlungsverbots nicht möglich. Deshalb beschloss ich, Frauen dazu aufzurufen, online aktiv zu werden, um uns trotz allem Gehör zu verschaffen. Ich erhielt rund hundert Audiobeiträge von Frauen, Männern und Kindern, die „Bekämpft das Virus, nicht die Frauen” [„Walczcie z wirusem, nie z kobietami“] und einige andere Parolen, die wir sonst bei Protesten vor dem Parlament verwenden, skandierten.

© Diana Lelonek

“Ministry of the Environment overgrown by Central European mixed forest” [Umweltministerium von mitteleuropäischem Mischwald überwuchert], Digitale Collage, Plakatwand und Foto 100×150 cm, Juni 2017. © Diana Lelonek

Meine Freundin, die Künstlerin Edka Jarząb, und ich haben aus den erhaltenen Aufnahmen einen Track zusammengestellt. So entstand der Mitschnitt einer Demonstration, die physisch nie stattgefunden hat. An dem Tag, als das Parlament über das Gesetz abstimmte, wurde die Tonaufnahme der Protestrufe aus Fenstern und von Balkonen, aus Autos und von Leuten auf ihrem Weg zu dem Geschäft (neben dem Parlamentsgebäude) abgespielt. Dank dessen konnten wir alle gemeinsam unsere Stimme erheben, und sie wurde gehört. Ich denke, dass eine solche „akustische Protestaktion“ in Zeiten, in denen Versammlungen verboten sind, ein wirksames Mittel des Protests sein kann.

Vor einigen Tagen verließ ich Warschau zum ersten Mal seit Anfang März. Zurzeit bin ich bei einem Freund auf dem Land und habe endlich das Gefühl, dass der Stress und die Anspannung, die mit der gegenwärtigen Situation zu tun haben, allmählich nachlassen.

Glauben Sie, dass Sie eine andere Einstellung zum Leben und zur Kunst haben werden, wenn diese Krise vorbei ist?

Ich weiß noch nicht, wie sich diese Pandemie auf mein Leben auswirken wird. Das ist im Moment schwierig zu sagen. Ich sehe die möglichen Auswirkungen sowohl in einem negativen als auch positiven Licht. Freilich ist dieses Virus zu einer Zeit aufgetaucht, als die Welt dringend eine Veränderung brauchte. Wir lebten in einer so schrecklich schnellen Zeit und Überproduktion, dass früher oder später etwas geschehen musste, um all dem Einhalt zu gebieten. Vergangenes Jahr forderten wir in den Klimabewegungen eine Reduzierung des Konsums und des Flugverkehrs. All das hat jetzt aufgehört – nicht durch den Willen des Menschen, sondern durch die „Entscheidung“ eines Mikroorganismus. Meine Einzelausstellung in Rom, Buona Fortuna, ist seit drei Monaten wegen des Coronavirus geschlossen.

Nächste Woche [Ende Juni, Anm. der Red.] wird sie endlich wieder geöffnet sein. Ich habe ein mulmiges Gefühl, wenn ich an diese Ausstellung denke, in der es um die durch unser arrogantes Verhalten gegenüber dem Planeten verursachte Katastrophe geht, mittels einer Reihe von „Zoe-Therapie“-Arbeiten, in denen Bakterien Vergeltung für die menschliche Dominanz üben … und dann taucht unerwartet ein echtes Virus auf, und die Ausstellung wird für drei Monate geschlossen … Als wir einige Wochen vor der Eröffnung mit Kurator Kuba Gawkowski über den Titel sprachen, war diese Ironie von “Buona Fortuna” für uns ebenso wichtig wie die in der Ausstellung sichtbar gemachte Hoffnung. Ich glaube, dass dieses Virus die letzte Chance für Veränderung ist. Wir dürfen sie nicht verpassen. Die Welt, wie wir sie kennen, wird es wahrscheinlich nicht mehr geben. Die Frage ist, wie sie sich verändern wird. Sie könnte sich zum Besseren verändern – eine Pandemie kann eine Chance für die Suche nach und die Umsetzung neuer wirtschaftlicher Lösungen und Modelle sein. Leider befürchte ich, dass die erste wirkliche Auswirkung, die sich bald zeigen wird, eine radikale Verschärfung der Klassenunterschiede sein wird. Ich mache mir auch Sorgen um unsere Freiheit und die Zukunft der Demokratie.

Foto: © Andrea Veneri

Diana Lelonek, Ausstellungsansicht: “Buona Fortuna”, Fondazione Pastificio Cerere, Rom, 2020. Foto: © Andrea Veneri

Was die Kunst anbelangt – nun, ich glaube, es wird schwierig werden. Beinah sämtliche Ausstellungen, Konferenzen, Debatten und Festivals, die ich für dieses Jahr geplant hatte, sind abgesagt worden. Kunstschaffende erhielten nahezu keine staatliche Unterstützung. Die öffentliche Finanzierung von Kunst und Kultur wird nach der Pandemie wahrscheinlich viel knapper ausfallen. Den Institutionen werden bereits jetzt Mittel gekürzt, was dazu führen kann, dass kein Budget mehr zur Verfügung steht, um Künstlerinnen und Künstler zu bezahlen. Die vielen Jahre, die wir mit dem Versuch zugebracht haben, eine faire Vergütung für unsere Arbeit zu erwirken und Ausstellungshonorare sicherzustellen, könnten vergebens gewesen sein. Vor Kurzem hörte ich ein Interview mit einem bekannten polnischen Schauspieler (eine sehr wohlhabende Person), der meinte, Kunstschaffende würden schon irgendwie über die Runden kommen, weil „ein hungriger Künstler ein produktiver Künstler ist“. Leider hält sich dieser Mythos in unserer Gesellschaft immer noch.

Das zweite Problem: Beschäftigte im Kultursektor sind zum großen Teil mit Null-Stunden-Verträgen oder schlecht bezahlten Verträgen angestellt, die weder Stabilität noch soziale Sicherheit bieten (zivilrechtliche Verträge, die prekärer nicht sein könnten). Sie werden derzeit um ihr Einkommen gebracht, und es wird auch nach Aufhebung der Beschränkungen nicht wieder so sein wie früher – die Situation könnte für Kulturschaffende schlimmer werden, als sie es jemals war.

Inwiefern hat dieses Virus Ihrer Meinung nach unser Leben grundlegend verändert? Hat es unser Leben überhaupt verändert? Was können wir aus der Pandemie lernen?

Wie bereits erwähnt, denke ich, dass sich unser Leben vor allem aufgrund der wirtschaftlichen Krise – durch den Coronavirus-Effekt – verändern wird.

Nach der Pandemie werden die meisten Menschen unter Armut, dem Verlust ihres Arbeitsplatzes oder ihrer Wohnung und Schulden (es ist bereits jetzt zu erwarten, dass viele Menschen innerhalb der nächsten drei Monate mit ihren Hypothekenzahlungen in Verzug geraten werden) leiden. Wohnungsprobleme und Arbeitslosigkeit werden zunehmen. Ich persönlich habe ein Problem mit Menschen, die optimistische Visionen von einer wunderbaren Welt nach der Pandemie verbreiten; das sind in der Regel privilegierte Leute, die Eigentumswohnungen besitzen und die Quarantäne damit verbrachten, auf ihren weitläufigen Terrassen Yoga zu praktizieren und „in ihr Innerstes zu reisen“. In den sozialen Medien sprechen viele Menschen aus der Mittelschicht darüber, wie die Quarantäne es ihnen ermöglicht hat, den wahren Sinn des Lebens zu erkennen … Um ehrlich zu sein: Ich kann mir diese Aussagen nicht länger anhören. Das wirkliche Leben sieht so aus: In Polen sind die meisten Leute in winzigen, mit Hypotheken belasteten Wohnungen oder in sehr teuren privat gemieteten Wohnungen eingepfercht. Ich hoffe sehr, dass die Immobilienblase infolge des Coronavirus platzen wird.

Foto: © Marcin Liminowicz

Diana Lelonek “Center For Living Things”. Ausstellungsansicht, Ausstellung „Zeitgeist“ in der Galerie lokal_30, Warschau, 2017. Foto: © Marcin Liminowicz; mit freundlicher Genehmigung von lokal_30

Die Pandemie hat sicherlich das Potenzial, Veränderungen herbeizuführen, die sonst nicht stattgefunden hätten. Die Welt ist zum Stillstand gekommen, und es sollte nicht so weitergehen wie bisher. Wir haben jetzt die Chance, andere Wirtschaftsmodelle einzuführen, Modelle, die der Ausbeutung der globalen Ökosysteme, der industriellen Agrarwirtschaft ein Ende setzen, die Bedeutung von kleinen landwirtschaftlichen Betrieben, Regionalität und Zusammenarbeit erhöhen, die Produktion verringern und das Leben entschleunigen würden. Das alles klingt jedoch zu utopisch. Und ich glaube nicht, dass es dazu kommen wird. Die Ökosysteme hatten einen Moment Zeit zum Durchatmen, bevor alles wieder seinen gewohnten Lauf nahm. Inzwischen steht uns eine größere Krise bevor – die Klimakrise. Auf lange Sicht wird diese viel bedrohlicher sein als die Pandemie.

Glauben Sie, dass Kunst das Zeug dazu hat, sozialen Wandel zu bewirken? Und wenn ja, auf welche Weise?

Ich glaube, dass Kunst durchaus ein solches Potenzial hat, aber sie ist nicht wirklich in der Lage, einen echten Durchbruch zu schaffen. Die Werkzeuge dafür stehen der Politik zur Verfügung, nicht der Kunst. Wir können unsere Aktivitäten an der Basis fortsetzen, engagierte, politische Kunst machen. Unsere Stimme ist wichtig. Sicherlich bietet Kunst Werkzeuge, die uns helfen können, Alternativen zu finden. Das geschieht bereits: Think-Tanks, die sowohl Theoretiker als auch Kunstschaffende zusammenbringen, sind bereits im Entstehen. Dennoch handelt es sich dabei noch immer um Aktivitäten in sehr kleinem Maßstab. Nach Ansicht der öffentlichen Meinung ist Kunst überflüssig und etwas, das unsere Unterstützung in der Krise nicht wert ist und das als erstes als unnötiger Luxus verschwinden kann.

© Diana Lelonek

ohne Titel, aus der Serie “Yesterday I met a really wild man” (100×70; 100×120), 2015. © Diana Lelonek

Wenn es darum geht, dass die Kunst eine Antwort auf die aktuelle politische und soziale Realität geben soll, dann hat sie meines Erachtens in der gegenwärtigen Situation großes Potenzial. Allerdings befürchte ich Repressionen der Art, wie sie Kunstschaffende in letzter Zeit in Warschau erlebt haben. Vor einer Woche [im Mai, Anm. d. Red.] hat eine Gruppe polnischer Künstlerinnen und Künstler ein Happening in der Nähe des Parlamentsgebäudes als Reaktion auf die Maßnahmen der Regierung im Hinblick auf die Abhaltung der Präsidentschaftswahlen während der Pandemie veranstaltet. Die Künstler taten ihre Arbeit – es war eine performative Aktion – und hielten sich an die geltenden Gesetze (Abstandsregelungen, Maskenpflicht). Trotzdem wurden sie mit hohen Geldstrafen für die Ausübung von Kunst bestraft, die ein kritischer Kommentar zur Realität war.

Original auf Englisch. Erstmals publiziert am 3. Juni 2020 auf slowlife.ludwigmuseum.hu und am 16. Juni 2020 auf Artportal.hu für East Art Mags.
Aus dem Englischen von Barbara Maya.


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