Begleiten Sie uns auf unserer Zugreise mit Verena Ringler, Direktorin von European Commons und Kuratorin der Tipping Point Talks 2019, die versucht den Boden für die nächste EU vorzubereiten. Sie schlägt vor Dinge anders zu tun um andere Dinge zu tun. In der sechsten Folge erklärt sie, warum wir einen Europa-Reflex brauchen.
“Vor kurzem hatte ich mit einigen Firmenchefs zu tun, die europäische Projekte unterstützen wollen. Ich bat sie, gemeinsam mit mir eine SWOT Analyse für Europa durchzuführen: Wir formulierten die Stärken, Schwächen, Chancen und Risiken, die sie mit Europa assoziierten. Und wissen Sie was? Vier von fünf Assoziationen waren negativ: Bürokratie, Zerrissenheit, mangelnde Zusammenarbeit und fehlende Strategien im Umgang mit China, Russland und Afrika. Warum löst das ehrgeizigste, zivilisatorischste und friedvollste Regierungsprojekt unserer Zeit in unseren Köpfen so viele negative Gedanken aus? Um eine Antwort auf diese Frage zu finden, wandte ich mich an alte Diplomatenfreunde aus gemeinsamen Kosovo-Zeiten. Sie sagten: An einem guten Tag in Brüssel finden wir bei 44 von 47 Themen einen Konsens. Das Problem ist aber, dass die Medien am nächsten Tag über die drei Fälle berichten, bei denen wir uns nicht einig waren. Also wandte ich mich an die Journalisten und fragte: Wie könnt ihr die 44 Fälle ignorieren, bei denen Einigkeit herrschte? Sie sagten: Einigkeit macht keine Schlagzeilen. Die Person, die entzweit, ist interessanter als eine Person, die eint.”
“Dann habe ich in einem Buch nachgelesen: „Jean Monnet – The First Statesman of Interdependence“ von François Duchêne. Jean Monnet, der Erbe einer Cognac-Dynastie in Frankreich, beschloss im Sommer 1945, im Trümmerhaufen des 2. Weltkriegs, die europäische Integration als eine Chance zu sehen und unsere Kohle- und Stahlindustrie als eine Stärke. Also setzte er alles daran, die europäische Kriegsmaschinerie in ein Friedensprojekt zu verwandeln. Er brachte französische Kohle- und Stahlproduzenten mit dem Erzfeind, der deutschen Kohle- und Stahlindustrie, zusammen. Sie trafen sich dann fünf Jahre lang immer wieder, bis sie 1950 den Schuman-Plan präsentierten. Und das war der offizielle Start für die europäische Integration. Aber Moment mal … Wenn Jean Monnet nur an die Gefahren und Risiken gedacht hätte, dann gäbe es heute keine EU. Also habe ich schließlich Psychologen konsultiert: Warum verbinden wir so viel Negatives mit der europäischen Einheit? Und sie erklärten mir, dass Menschen nicht einfach so lösungsorientiert und an die Wahrnehmung von Chancen denken. Das muss gesellschaftlich gefördert und individuell geübt werden. Dieses Verhalten muss antrainiert werden, genauso wie man lernt, ein neues Musikinstrument zu spielen oder eine neue Sportart auszuüben. Was wir also brauchen, ist eine Morgenroutine für 500 Millionen EuropäerInnen, um über den ersten und dritten Buchstaben von SWOT Europa nachzudenken. Die Stärken und die Chancen! Wir brauchen einen Europa-Reflex.”
Dieser Text und dieses Video ist unter der Creative Commons Lizenz veröffentlicht: CC BY-NC-ND 3.0. Der Name des Autors/Rechteinhabers soll wie folgt genannt werden. Autor: Jovana Trifunovic und Igor Bararon / tippingpoint.net. Titelbild: Benjavisa / istockphoto.com
Back on Track
In Anbetracht der großen geopolitischen Veränderungen und Herausforderungen in unserer Welt, von zunehmendem Nationalismus über vermehrte Forderungen nach Privatsphäre bis hin zum Spannungsfeld zwischen wachsenden menschlichen Bedürfnissen und ökologischen Grenzen, gibt es zweifelsohne noch Raum für erhebliche Verbesserungen. Wir von der ERSTE Stiftung sehen die Zivilgesellschaft in diesem Prozess als wesentlichen Impulsgeber und haben daher die Videoreihe Back on Track über soziales Engagement und Aktivismus gestartet – als ein klares Zeichen der Unterstützung all jener, die sich dafür einsetzen, unsere im Umbruch befindliche Gesellschaft aktiv mitzugestalten.
Das Video Wir brauchen einen Europa-Reflex! ist die sechste Episode der zweiten Staffel von Back on Track.