“Die EU muss viel deutlicher werden.”
Florian Bieber über den langen Weg zum EU-Beitritt am Westbalkan
13. September 2018
Erstmals veröffentlicht
23. Mai 2018
Florian Bieber ist Südosteuropa-Experte an der Karl-Franzens-Universität in Graz. Ein Gespräch über Entwicklungen am Westbalkan, den langen Weg zum EU-Beitritt und Österreichs Rolle in alldem.
Florian Bieber, warum soll man dem Westbalkan gerade jetzt Aufmerksamkeit schenken?
Im letzten Jahr waren am Westbalkan zwei Entwicklungen zu beobachten: Einerseits hat der Einfluss von Nicht-EU-Staaten in der Region zugenommen. Darunter etwa von Russland, der Türkei und China. Innerhalb der EU ist dadurch der Eindruck entstanden, dass, wenn sich die EU nicht für den Westbalkan interessiert, es andere Länder tun. Der Einfluss dieser Länder kann für die Westbalkanländer und die Europäische Union destruktiv sein. Andererseits konnten wir in der Region ein Abgleiten zu eher autoritären Herrschaftsformen bemerken. Das hat ebenfalls damit zu tun, dass die EU der Region in den letzten Jahren nicht allzu viel Aufmerksamkeit geschenkt hat. Seitens der EU versucht man nun, dem entgegenzusteuern. So hat zum Beispiel vor Kurzem der Westbalkangipfel in Sofia stattgefunden.
Wie aufmerksam ist Österreich?
Österreich ist eines der Länder, das sich seit vielen Jahren am stärksten für einen EU-Beitritt des Westbalkans ausgesprochen hat. Das hat zum Teil mit wirtschaftlichem Interesse zu tun. Österreichische Unternehmen sind zum Beispiel sehr stark in der Region engagiert. Zudem haben viele Österreicherinnen und Österreicher Vorfahren aus der Region und es gibt viele kulturelle und persönliche Kontakte zum Westbalkan. Ob diese Unterstützung mit dem Regierungswechsel fortgesetzt wird, ist nicht ganz klar. Viel wird davon abhängen, wie sich Österreich in seiner EU-Ratspräsidentschaft ab Juli positionieren wird. Bisherige Aussagen gehen aber schon in die Richtung, dass der EU-Beitritt des Westbalkans eine der Prioritäten der österreichischen Ratspräsidentschaft sein wird.
Der EU-Beitritt ist also ein großes Thema am Westbalkan. Welche Themen beschäftigen die Region noch?
Ein Thema ist die Frage des Nationalismus und der Endgültigkeit der Grenzen in der Region. Die Friedensordnung, die nach den Kriegen in den 90er-Jahren etabliert wurde, ist nicht unumstritten. In Serbien wird zum Beispiel der Kosovo nach wie vor nicht anerkannt. Auch die Erinnerung an den Krieg ist immer noch kontrovers. Es gibt in den Ländern völlig unterschiedliche Erinnerungskulturen und somit auch keine einheitliche Interpretation der Balkankriege. Das schafft immer wieder Spannungen, gerade an Gedenktagen oder beim Bau von Denkmälern. Das andere Thema ist die demokratische Krise, die meiner Meinung nach von außen oft vernachlässigt wurde. Nach dem Sturz der autoritären Systeme am Westbalkan kam es in vielen Ländern zu einer zaghaften Demokratisierung mit der Hoffnung auf einen EU-Beitritt. Der Transformationsprozess ging allerdings nicht so schnell, wie man es sich erhoffte. Oftmals waren die neuen Demokraten korrupt oder es wurde ihnen Korruption vorgeworfen. Auch der EU-Beitritt lässt auf sich warten, während die wirtschaftliche Krise zu Rückschritten in verschiedenen Ländern geführt hat. In Mazedonien herrschte beispielsweise über zehn Jahre lang die Regierung von Nikola Gruevski. Sie regierte autoritär, was sich durch die Manipulation von Wahlen, die Ausschaltung der Justiz und die Aushöhlung der Pressefreiheit bemerkbar machte. Derartige Tendenzen können wir auch in Serbien, in Montenegro und in Bosnien beobachten. Das ist eine Herausforderung, die schon seit langem besteht und ein wichtiges Thema bleiben wird.
Florian Bieber
Florian Bieber, Politologe und Zeithistoriker, ist Professor an der Karl-Franzens-Universität in Graz und leitet dort das Zentrum für Südosteuropastudien. Sein Forschungsschwerpunkt liegt auf interethnischen Beziehungen, ethnischen Konflikten und Nationalismus mit Fokus auf Südosteuropa.
Foto: © Markus Röck/FH Joanneum
In Serbien, Montenegro und Bosnien gibt es also nach wie vor autoritäre Tendenzen. Wie sieht das im Kosovo und in Albanien aus?
Im Kosovo gibt es solche Tendenzen ebenfalls. Dort sind sie aber eingedämmt, da sich das politische Spektrum auf kleinere Parteien aufspaltet. So gibt es keine einzige Partei, die eine dominante Stellung erreichen könnte, wie es etwa in Serbien und in Montenegro der Fall ist. Dass die Situation im Kosovo nicht so ist, wie in den Nachbarstaaten, liegt also eher an der fehlenden Gelegenheit, autoritär zu herrschen, als an der Demokratisierung der Parteien. Auch der Präsident des Kosovos, Hashim Thaçi, hat einfach nicht die Dominanz, die ein Aleksandar Vučić in Serbien oder ein Milo Ðukanović in Montenegro hat.
In Albanien haben wir mit Edi Rama als Ministerpräsidenten zwar eine dominante Persönlichkeit, aber in seiner Partei gibt es einen gewissen Pluralismus. Auch sein politisches Verhalten ist zumindest nicht eindeutig diesem autoritären Schema zuzuordnen, das in Serbien und in Montenegro auftritt.
Er hat sich im vergangenen Jahr auch explizit für den EU-Beitritt ausgesprochen.
Da unterscheidet er sich nicht von den anderen Regierungschefs in der Region. Die Bevölkerung will den EU-Beitritt. Um am Westbalkan als Politiker erfolgreich zu sein, muss man den EU-Beitritt fast als erklärtes Ziel haben. Doch das allein heißt noch nicht, dass man ein Demokrat ist. Milo Ðukanović und Aleksandar Vučić haben sich ebenfalls für einen EU-Beitritt ausgesprochen, wollen aber andererseits die autoritäre Kontrolle nicht aus der Hand lassen. Ich glaube, dass Albanien unter Edi Rama sicherlich versucht hat – genauso wie die neue mazedonische Regierung unter Zaev – Anschluss zu finden an die sogenannten „Frontrunner“ Serbien und Montenegro. Den Beitritt zur EU – möglichst gleichzeitig mit Serbien und Montenegro – sehe ich als erklärte Ziele der albanischen und der neuen mazedonischen Regierung.
“Um am Westbalkan als Politiker erfolgreich zu sein, muss man den EU-Beitritt fast als erklärtes Ziel haben.”
Ein großes Problem bei der Erreichung dieser Ziele ist die Korruption im Staat. Laut einem Bericht von Transparency International habe Albanien sogar Rückschritte in der Korruptionsbekämpfung gemacht. Warum ist das so?
Ich glaube, es gibt gewisse strukturelle Gründe, warum Korruption so schwer zu bekämpfen ist. Wenn es Korruption im Staat seit langem gibt und die auch oftmals ungestraft praktiziert wurde, ist es schwer, dagegen vorzugehen. Es gibt in den Ländern auch Interessensgruppen, die den Status quo aufrechterhalten wollen und nur sehr schwer auszuhebeln sind. Zudem wird die Korruption von der Bevölkerung oftmals gar nicht als solche wahrgenommen. Korruptionsbekämpfung verlangt Änderungen auf mehreren Ebenen. Es braucht nicht nur Gesetze, sondern auch ein Umdenken in der Bevölkerung, die gewisse korrupte Praktiken toleriert. Außerdem braucht es stärkere Institutionen und eine Rechtsstaatlichkeit, die sicherstellt, dass der Korruption angeklagte Personen tatsächlich hinter Gitter kommen. Die EU hat zu lange nur auf die formalen Regeln geschaut. Aber das alleine reicht nicht aus.
Hat sich die Beitrittsperspektive für die Westbalkan-Staaten nun in den letzten Jahren verbessert oder verschlechtert?
Formal gesehen hat sich die Perspektive verbessert. Serbien und Montenegro etwa haben in ihren Beitrittsverhandlungen Fortschritte gemacht. In der Praxis schaut es nicht so gut aus. So wurden die strukturellen Schwierigkeiten wie Demokratie und Korruption – die EU bezeichnet das auch als State Capture – nicht wirklich bekämpft. Außerdem muss man bedenken, dass für einen zukünftigen EU-Beitritt nicht nur abgeschlossene Beitrittsverhandlungen, sondern auch eine Ratifizierung des Beitrittsabkommens durch die Parlamente aller EU-Mitgliedsstaaten nötig ist. Es gibt zum Beispiel immer noch einige Mitgliedsstaaten, die sehr skeptisch gegenüber einer Erweiterung sind. Weiters wirkt auch die lange Dauer des Beitrittsprozesses entmutigend – sowohl für die Eliten, als auch für die Bevölkerung. Sie sehen, dass der EU-Beitritt, der schon fast 20 Jahre versprochen ist, immer noch nicht Realität geworden ist. Wenn sie keinen Idealismus und keinen Glauben mehr haben, ist natürlich der Wind aus den Segeln heraus.
Welche weiteren Schritte sollte die EU setzen, um die Beitrittsverhandlungen voranzutreiben?
Ich glaube, dass die EU kritischer sein muss und auch der Öffentlichkeit gegenüber klarer sagen sollte, wo die Probleme am Westbalkan liegen. So wie etwa im Fall von Mazedonien vor zwei Jahren: Eine hochrangige Expertenkommission hat sich die Probleme vor Ort angeschaut und in einem einflussreichen Bericht geschrieben, wo die Schwierigkeiten im Land sind und was verändert werden muss. Das war das erste Mal, dass von Seiten der EU eine so klare Sprache gesprochen wurde und das sehe ich viel zu selten. Ich sehe zum Beispiel Donald Tusk, der vor kurzem in Serbien war und Aleksandar Vučić über alles lobt und als Seelenverwandten bezeichnet. Durch solche Aussagen werden autoritäre Herrschaftsformen aber eher ermutigt und nicht kritisiert. Die EU muss viel deutlicher jene, die sich undemokratisch verhalten, als solche identifizieren. Sonst werden die, die für Demokratie stehen, zu EU-Skeptikern. Wird das nicht durchbrochen, sehe ich keine Perspektive, dass die Länder der EU beitreten können.
“Der Westbalkan ist nicht in der Lage, einen alternativen Entwicklungspfad aufzuzeigen und ist zudem auch eine Region, die völlig von der EU umkreist ist – wie ein schwarzes Loch in Europa.”
Und wie sollte Österreich seine Außenpolitik weiterführen?
Es gibt wenige Regionen in der Welt, wo Österreich mehr Einfluss und ein besseres Image hat, als auf dem Balkan. Aus diesem Grund hat das Land hier sehr viele Möglichkeiten, eine positive Rolle zu spielen. Es ist nur eine Frage des politischen Willens. Dieser war in der Vergangenheit da und ich hoffe, dass es auch weiterhin so bleibt. Die österreichische Außenpolitik ist meiner Meinung nach am besten beraten, die bisherige Unterstützung für einen EU-Beitritt des Westbalkans weiterzuführen. Es ist sehr wichtig, dass die österreichische Politik ganz klar sagt: EU-Beitritt unter den jetzigen Grenzen. Ich glaube, dass das den österreichischen Interessen und auch den Interessen der EU am besten dient.
Zum Abschluss ein Blick in die Zukunft: Wie wird sich die Situation am Westbalkan in den nächsten zehn Jahren weiterentwickeln?
Zukunftsvorhersagen sind eine schwierige Angelegenheit. Wenn es gelingt, den Kreislauf von eher autoritärer Herrschaft und „Pseudo-EU-Annäherung“ zu durchbrechen und es wiederum zu einem Schub von neuer Demokratisierung und ernsthaftem Willen zum Beitritt kommt, kann ich mir vorstellen, dass die Länder durchaus der EU beitreten. Natürlich nur, sofern die EU auch selbst reform- und änderungsfähig bleibt und sich nicht zunehmend isoliert. Wenn es aber auf dem Status quo verbleibt, sehe ich eine Entwicklung ähnlich wie in der Türkei: Man hat Beitrittsverhandlungen, aber jeder weiß, dass sie nicht zu einem Beitritt führen. Und schließlich kommt es zu gegenseitigen Schuldzuweisungen zwischen den Regierungen und der EU. Das wäre glaube ich die fatalste Dynamik. Der Westbalkan ist nicht in der Lage, einen alternativen Entwicklungspfad aufzuzeigen und ist zudem auch eine Region, die völlig von der EU umkreist ist – wie ein schwarzes Loch in Europa. Das heißt zwar nicht, dass die Region ein schwarzes Loch werden muss, das alles in sich hineinsaugt, aber ich glaube, dass es durchaus krisenhaft sein kann, wenn sich verschiedene andere Akteure engagieren. Letztlich hängt es aber von der politischen Großwetterlage – also den Beziehungen zwischen der EU und Russland – ab. Je instabiler diese Beziehung ist, desto negativer wirkt sie sich auf die Regionen aus, die sich nicht eindeutig einem der großen Akteure zuordnen.
Erstmals publiziert am 23. Mai 2018 auf postcardsfromalbania.com.
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Urheberrechtliche Angaben zu Bildern, Grafiken und Videos sind direkt bei den Abbildungen vermerkt. Titelbild: Europäische Staats- und Regierungschefs posieren für ein Gruppenfoto während des EU-Westbalkan-Gipfels am 17. Mai 2018 in Sofia. Foto: © Vassil Donev/AFP/picturedesk.com.