Das Schweigen von Theresienstadt
Wie ein neues Buch weniger die gängigen tschechischen nationalen Narrative des Ghettos und des Holocaust infrage stellt, sondern die faktische Mauer des Schweigens.
06. April 2022
Erstmals veröffentlicht
16. März 2022
Quelle
Das neue Buch einer tschechischen Historikerin befasst sich eingehend mit der Häftlingsgesellschaft des Lagers Theresienstadt und stellt dabei weniger die gängigen tschechischen nationalen Narrative des Ghettos und des Holocaust infrage als die faktische Mauer des Schweigens.
Nationale Narrative über den Zweiten Weltkrieg und den Holocaust sind in weiten Teilen Mitteleuropas zu einem heftig umkämpften Streitthema geworden. Dies gilt nicht für die Tschechische Republik, wo der historische Blick auf das 20. Jahrhundert vom Kommunismus dominiert wird. In ihrem neuen Werk versucht die Holocaust-Historikerin Dr. Anna Hájková jedoch, jene Geschichten aufzuzeigen, die durch diese Prozesse zum Schweigen gebracht wurden.
The Last Ghetto: An Everyday History of Theresienstadt [Das letzte Ghetto – Alltag in Theresienstadt] befasst sich eingehend mit der Häftlingsgesellschaft dieses Lagers, das als letztes Nazi-Ghetto einen Tag nach Ende des Zweiten Weltkriegs befreit wurde, und damit, wie diese Gesellschaft „die Mittelschicht Zentral- und Westeuropas vor und nach dem Krieg“ widerspiegelte.
Die rund 60 Kilometer nordwestlich von Prag gelegene ehemalige Garnisonsstadt Theresienstadt diente im Zweiten Weltkrieg als Internierungsghetto für europäische Jüdinnen und Juden. Ab November 1941 wurden in diesem Lager etwa 155.000 Menschen inhaftiert, rund 35.000 fanden hier den Tod und etwa 90.000 wurden zur Ermordung in andere Lager verschleppt. Die Verwaltung des Lagers war den Gefangenen weitgehend selbst überlassen, während sie auf den Transport in die Vernichtungslager und Mordstätten im besetzten Polen, in Weißrussland (Belarus) und im Baltikum warteten.
Daraus ergeben sich für Hájková zahlreiche Anknüpfungspunkte, um zu untersuchen, wie sich die Internierten untereinander organisierten, was ihnen nach Ansicht der Autorin eine gewisse Handlungsfähigkeit gab.
„In geschichtlichen Abhandlungen werden Gefangene üblicherweise als handlungsunfähig, als graue, ohnmächtige Masse beschrieben“, erklärt Hájková gegenüber BIRN. „Aber die Menschen hassen es, machtlos zu sein. Man denke nur an die Pandemie. Angesichts des Virus können wir so wenig tun, aber die Menschen waren sehr erfinderisch, wenn es darum ging, die Einschränkungen des Lockdowns zu umgehen. Theresienstadt war eindeutig von der tschechischen Kultur geprägt.“ Auf die Idee, die Häftlingsgesellschaft von Theresienstadt unter die Lupe zu nehmen, sei Hájková ursprünglich bei ihrem Besuch in Israel gekommen, wo sie Überlebende traf. Diese erzählten ihr nicht nur von Leid und Qual, sondern auch vom Fußballspielen und wie sie hinter den Mädchen her waren.
Die Autorin musste jedoch bald feststellen, dass diese schönen Momente weitgehend der sozialen Elite vorbehalten waren: In Theresienstadt waren dies junge tschechische Männer, die bereits seit Anbeginn im Lager waren und einen Großteil davon selbst aufgebaut hatten. Am anderen Ende der Hierarchie standen die älteren Häftlinge, die später aus Deutschland oder Österreich hergebracht wurden. Ihnen überließ die jüdische Selbstverwaltung die dürftigsten Rationen und schäbigsten Unterkünfte.
Nach ethnischen Kriterien getrennt
Hájková stellt fest, dass die Klassen- und Hierarchiestruktur unter den Häftlingen nicht auf der gemeinsamen jüdischen Abstammung beruhte, was den damaligen höchst säkularen Umgang mit Religion in Tschechien widerspiegelt. Vielmehr wurden die Ghetto-Insassen streng nach ethnischen Gesichtspunkten getrennt. Diese Hierarchie hatte für die untersten Schichten tödliche Folgen. Aufzeichnungen zufolge starben 84 Prozent der Häftlinge über 60, die nicht in den Osten deportiert wurden, in Theresienstadt. Bei keiner anderen Altersgruppe lag die Wahrscheinlichkeit, im Lager umzukommen, über 11,5 Prozent.
„Die nationalsozialistische Politik [der unzureichenden Versorgung mit Lebensmitteln] wurde durch die Einteilung der Menschen in Lebensmittelkategorien, durch Korruption und das Streben nach individueller Bereicherung einiger Häftlinge auf fatale Weise potenziert“, heißt es im Buch. „Zusammen bewirkten diese Vorgänge die Auslöschung einer ganzen Generation älterer deutscher, österreichischer und tschechischer Jüdinnen und Juden.“
Auch andere Funktionsweisen der Hierarchie, die Korruption, Klassenunterschiede und Missbrauch ebenso wie Bindung, Loyalität und Solidarität hervorbrachte, werden im Buch analysiert. Gegenstand der Untersuchungen ist insbesondere der zusätzliche Druck, dem weibliche Häftlinge ausgesetzt waren – von der mangelnden Möglichkeit, sich die begehrtesten Posten im Lagerbetrieb zu sichern, bis hin zu sexuellen Übergriffen. Die tief sitzenden Vorurteile, unter denen LGBT-Gefangene litten, die in den meisten geschichtlichen Abhandlungen ausgeblendet werden, finden ebenfalls Erwähnung.
Solche Geschichten würden jedoch von den üblichen Berichten über den Holocaust und „verklärten Erzählungen“ über Theresienstadt als ein moderates Lager für Angehörige der Mittelschicht, die den Kern des gängigen tschechischen Narrativs bilden, übertönt werden, erklärt Hájková. Mit diesen Geschichten wolle sie lediglich „eine heterogene Gesellschaft, die sich unterschiedlich verhält, weil das einfach menschlich ist“ zeigen, so die Autorin.
Kapitel noch nicht abgeschlossen
Zugleich beharrt Hájková darauf, dass das Aufdecken von Geschichten über sexuelle Übergriffe und Homophobie ein unverhohlen politischer Akt ist, der zweifellos an die aktuellen #MeToo- und LGBT-Debatten anknüpft. Damit könnte sie eine Gegenreaktion auslösen. Die Geschichte des Holocaust ist in Mitteleuropa zu einer Art Minenfeld geworden, wo rechte Regime versuchen, Narrative so zu gestalten, wie es ihren Interessen dienlich ist.
Theresienstadt liegt nur 60 Kilometer von Polen entfernt. Dort ist die Regierung unter der Partei Recht & Gerechtigkeit (PiS) vehement darauf bedacht, die Geschichte des Zweiten Weltkriegs – einschließlich die der im Land errichteten NS-Vernichtungslager – zu kontrollieren, um Unterstützung für ihren nationalistischen Populismus zu mobilisieren.
Infolge dieses Bestrebens, zu dem auch das „Holocaust-Gesetz“ gehört, das unter Strafe verbietet, dem polnischen Volk Mitschuld an den Verbrechen der Nazis zuzuschreiben, geriet die Wissenschaft ins Visier. Historikerinnen und Historiker, die von der „offiziellen Darstellung“ abweichen, wurden verklagt, haben ihren Arbeitsplatz verloren und sahen sich medialer Verfolgung ausgesetzt. Der tschechische Zugang zur Geschichte des 20. Jahrhunderts ist jedoch ein völlig anderer. Die hochgradig individualistische tschechische Gesellschaft sei weitgehend immun gegen die Blut-und-Boden-Rhetorik, die anderswo in der Region zur Förderung des Nationalismus eingesetzt wird, meint der Dozent Ondrej Klipa von der Prager Karls-Universität.
“In Tschechien gibt es keine wirkliche Diskussion über die Geschichte von Theresienstadt.”
Das mag auch dazu beigetragen haben, dass sich die Tschechinnen und Tschechen nicht mit Theresienstadt auseinandergesetzt haben. Hájkovás Arbeit über das Lager habe ihren Angaben zufolge keine negativen Reaktionen hervorgerufen, auch wenn es spezifischere Gründe dafür gebe, so die Autorin, dass ihre Arbeit nicht die Art von Ressentiment ausgelöst hat, wie dies anderswo der Fall sein könnte. „In Tschechien gibt es keine wirkliche Diskussion über die Geschichte von Theresienstadt“, sagt sie, wobei sie darauf hinweist, dass es sich dabei um ihre persönliche Meinung und nicht die Lehrmeinung handelt. Im Vergleich zu den meisten Ländern im Osten Europas, so Hájková weiter, verstehen die Tschechen den Holocaust als „eigene Geschichte“, die in der nationalen Erinnerung keine große Rolle spielt.
Das könnte ihrer Meinung nach daran liegen, dass das Land nicht so stark traumatisiert war wie seine Nachbarn. Die Historikerin beobachtet jedoch auch einen virulenten Antikommunismus, der mittlerweile das nationale Narrativ in der tschechischen Öffentlichkeit und Politik dominiert.
Von dieser Dynamik zeugen die jüngsten politischen Vorfälle. Der ehemalige Senatspräsident Jaroslav Kubera wurde vergangenes Jahr zum Helden, als seine Missachtung der Kommunistischen Partei Chinas mit einem tödlichen Herzinfarkt endete. Dieser Ruhm wurde ihm allerdings zuteil, kurz nachdem er in Theresienstadt vor Publikum erklärt hatte, dass sich Totalitarismus und Rassismus heute hinter Begriffen wie Umweltschutz, Gleichberechtigung, politische Korrektheit und Multikulturalismus verstecken.
Erst kürzlich sah man Demonstrierende mit gelben Sternen auf den Straßen Prags, die behaupteten, dass Menschen, die sich der Covid-19-Impfung verweigerten, wie die Juden während des Krieges gebrandmarkt werden würden. Der öffentliche Aufschrei hielt sich, abgesehen von den Protesten fassungsloser jüdischer Gruppen, jedoch in Grenzen. Hájkovás Buch stellt also nicht so sehr die gängigen nationalen Narrative über das Ghetto und den Holocaust infrage als die faktische Mauer des Schweigens. „Ich denke, es ist befreiend und hilfreich für Menschen, über die Gesellschaft nachzudenken, in der sie leben, wenn diese totgeschwiegenen Geschichten erzählt werden“, argumentiert die Autorin. „Tschechien hat sich mit seiner Vergangenheit, was den Kommunismus oder den Holocaust betrifft, noch nicht gebührend auseinandergesetzt.“
Original auf Englisch.
Erstmals publiziert am 16. März 2021 auf Reportingdemocracy.org, einer journalistischen Plattform des Balkan Investigative Reporting Network.
Aus dem Englischen von Barbara Maya.
Dieser Text ist urheberrechtlich geschützt: © Tim Gosling / Reporting Democracy. Bei Interesse an Wiederveröffentlichung bitten wir um Kontaktaufnahme mit der Redaktion. Urheberrechtliche Angaben zu Bildern, Grafiken und Videos sind direkt bei den Abbildungen vermerkt. Titelbild: Israels Präsident Reuven Rivlin (li.) wird vom tschechischen Präsidenten Milos Zeman auf den Friedhof des ehemaligen Konzentrationslager Theresienstadt in Nordböhmen (Tschechische Republik) begleitet. Das Foto ist im Rahmen eines Besuchs der Gedenkstätte am 22. Oktober 2015 entstanden. Foto: Filip Singer / EPA / picturedesk.com