Ideen und Verhaltensweisen breiten sich in einer Gesellschaft aus wie eine ansteckende Krankheit, lautet die These von Malcolm Gladwell. Mit seinem Buch „Tipping Point – Wie kleine Dinge Großes bewirken können“ hat der kanadische Autor den Begriff im Jahr 2000 einem größeren Publikum bekannt gemacht. Gladwell interessierte nicht nur, wie man eine Entwicklung erkennt oder womöglich sogar steuert, die sich auf einen Moment des Umkippens zubewegt, sondern auch, wie man unerwünschtes Kippen auf die falsche Seite verhindern und aktiv zu positivem Gruppenverhalten beitragen kann.
Ab welchem Moment wird Migration zur Krise?
Auf heute übertragen könnte man zum Beispiel fragen: Warum wird eine abstruse Falschmeldung plötzlich von einer Mehrheit geglaubt? Wie wird ein Shitstorm in den sozialen Medien ausgelöst? Ab welchem Moment wird Migration zur Krise? Wann lassen sich Menschen Korruption und Willkür nicht mehr gefallen und fordern auf der Straße demokratische Reformen? Wann war der Moment, als aus dem Schulstreik einer 15-jährigen in Stockholm ein globaler Flächenbrand des Protests wurde? Zu solchen Fragen würden wir in diesem Magazin gern mehr hören und lesen. Sie hoffentlich auch.
In guten Geschichten steht immer irgendetwas auf der Kippe, ob sie nun von Verbrechen, Korruption, Ökologie, Demokratie, Kunst, ob sie von Revolutionen, Tragödien oder Siegen handeln. Schriftstellerinnen und Journalisten suchen nach diesen Momenten. Sie wollen wissen, wann und warum eine Gesellschaft oder eine Familie aus der Balance gerät. (Malcolm Gladwell betreibt heute übrigens einen wunderbaren Podcast, der zwar nicht „Sternstunden der Menschheit“ heißt, sondern „Revisionist History“, an dem Stefan Zweig, der erste Sammler von historischen Tipping Points, aber trotzdem seine helle Freude gehabt hätte.)
Die „weiße Flucht“
Der Mann, der den Begriff Tipping Point zuerst aus der Physik in die Soziologie übernahm, war übrigens der Amerikaner Morton Grodzins. Die Studie, die er Ende der 50er-Jahre durchführte, könnte kaum aktueller sein. Grodzins untersuchte die Integration in amerikanischen Wohngebieten. Er fand heraus, dass die meisten weißen Familien in einer Gegend wohnen blieben, solange die Anzahl schwarzer Familien in der Nachbarschaft vergleichsweise sehr gering war. In dem Moment, in dem „die eine schwarze Familie zu viel“ ankam, zogen die verbliebenen weißen Familien massenhaft fort. Diesen Moment, der den Prozess der sogenannten „weißen Flucht“ auslöste, bezeichnete er als Tipping Point.
Man kann den Tod von George Floyd im Mai 2020 und die anschließenden US-amerikanischen und weltweiten Proteste gegen Rassismus und strukturelle Diskriminierung als Tipping Point der bereits 2013 gegründeten Black Lives Matter-Bewegung bezeichnen. Diese prangert disproportional häufige, oft tödliche Polizeigewalt gegen Personen schwarzer Hautfarbe an, die zum Alltag in der rassistischen Gesellschaft geworden ist. Das Sterben von George Floyd war daher zwar ein empörender, aber kein außergewöhnlicher Vorfall. Der eigentliche Skandal ist vielmehr die Alltäglichkeit und die Nichtbeachtung solcher Taten. Der Unterschied zu vielen vergleichbaren Fällen war nur, dass die Tat gefilmt und veröffentlicht wurde und die Reaktion der Regierung besonders empathielos war. So wurde dies „der eine Mord zu viel“.
Kipppunkte sind also nicht unbedingt von Natur aus spektakuläre Vorkommnisse, sondern oftmals der sprichwörtliche letzte Tropfen, der das Fass zum Überlaufen bringt. Damit wird aber deutlich, dass Chronistinnen des Zeitgeschehens den Blick nicht nur auf den plötzlichen Verlust der Balance oder auf den Anbruch einer „Neuen Normalität“ richten dürfen – im Jargon von Magazinmachern: auf die sensationelle Story. Genauso wichtig ist es die Aufmerksamkeit auf die vielen Tropfen zu richten, die vielen Schicksale, die täglich unbeachtet bleiben, und von denen wir nie wissen können, welcher Tropfen von ihnen vielleicht einmal der letzte, der eine zu viel sein wird.
Wenn Du nicht fliegen kannst, lauf!
Tropfen sind – zumindest in der deutschen Sprache – ziemliche Alleskönner. Sie können nicht nur vollen Fässern gefährlich werden, sondern sogar Steinen. Das Sprichwort vom steten Tropfen, der einen Stein höhlt, preist Tugenden wie Beharrlichkeit, Ausdauer und die Macht der kleinen Schritte. Die beiden Weisheiten beschreiben durchaus etwas Ähnliches: auf den Menschen und die Themenfelder dieses Magazins übertragen die Geduld, die Zielstrebigkeit und den Enthusiasmus, die nötig sind, wenn man in der Welt langfristig und nachhaltig etwas zum Besseren bewirken will. Es braucht nicht selten einen langen Atem und viele Tropfen, bis ein Fass voll und ein Stein hohl sind, bis Neues, Besseres entstehen kann.
Martin Luther King Jr. hat das in mehreren Reden um vieles schöner formuliert. Diese Zeilen stammen aus einer seiner berühmtesten Ansprachen, jener vom 26. Oktober 1967 an die Schüler der Barratt Junior High School in Philadelphia für ein gelungenes Leben:
Wenn Du nicht fliegen kannst, lauf.
Wenn Du nicht laufen kannst, geh.
Wenn du nicht gehen kannst, krieche,
aber bleib auf alle Fälle in Bewegung.”
Wir möchten uns diesen Appell zu Herzen nehmen und ihn auch unseren Leserinnen regelmäßig in Erinnerung rufen. Wir leben in bewegten Zeiten, die wir aufmerksam beobachten sollten. Kritische Momente brauchen eine kritische Öffentlichkeit und den Mut die Zukunft eines liberalen, demokratischen Europas in der Welt mitzugestalten. Tipping Point wird auch von denen berichten, die dran bleiben und nicht aufgeben. Denn sie tun das Richtige.
By all means, keep moving!
Dieser Text ist urheberrechtlich geschützt: © Maribel Königer / tippingpoint.net. Urheberrechtliche Angaben zu Bildern, Grafiken und Videos sind direkt bei den Abbildungen vermerkt. Titelbild: Arbeiter demontieren am 26. April 2022, inmitten der russischen Invasion in der Ukraine, das sowjetische Denkmal für die ukrainisch-russische Freundschaft in Kyjiw. Foto: Genya Savilov / AFP / picturedesk.com