Erschüttert, aber ungebrochen
Marta Králiková über die slowakische Politik nach der Ermordung von Ján Kuciak
Der schockierende Mord an dem Investigativjournalisten Ján Kuciak (27) und seiner Verlobten Martina Kušnírová (27) löste einen öffentlichen Aufschrei aus und hatte im März 2018 den Abgang der Regierung zur Folge. Was hat sich seitdem getan?
Monate später hält die Vertrauenskrise der staatlichen Institutionen der Slowakei weiter an. Verschärft wird die Lage noch dadurch, dass die Regierungsparteien, gestützt auf ihren uneingeschränkten Zugang zu Ressourcen, eine Politik der Machterhaltung betreiben. Die von der Initiative „Für eine anständige Slowakei“ organisierten, in Städten im ganzen Land abgehaltenen Bürgerproteste erschütterten die Regierungskoalition zwar massiv, mit beispiellosen Folgen: Sowohl der Ministerpräsident als auch der Innenminister und der Polizeichef traten zurück. Doch die Öffentlichkeit ist weiter kritisch, viele sehen in den Änderungen nur Kosmetik, die weit davon entfernt sei, die Probleme, die das Land seit Monaten plagen, an der Wurzel zu packen.
Rückkehr zu „anständiger Politik“ wird gefordert
Am 22. Juni schloss sich ein symbolischer Protestzug von etwa hundert Bauern der achten Protestrunde an. Sie fuhren mit ihren Traktoren durchs Land, um Regierungsvertreter zu treffen und erinnerten die Regierung erneut daran, dass die Zivilgesellschaft entschlossen ist, weiter für eine anständige Slowakei zu kämpfen. Jeden Tag zeigen neue Entwicklungen, dass die Krise keineswegs vorüber ist. Der ungelöste Doppelmord an Ján Kuciak und seiner Verlobten, neue Enthüllungen über Ermittlungsmängel, die Ignoranz der Regierung gegenüber Problemen in Schlüsselbereichen der Landwirtschaft, Bildung und Umwelt und die Politisierung von Justiz und Exekutive sind die Themen, die Menschen aus unterschiedlichsten Alters- und Berufsgruppen weiter auf die Hauptplätze der slowakischen Städte treiben.
Die Organisation der Protestbewegung, die von einer Gruppe junger Menschen in der Hauptstadt ausging, liegt derzeit in den Händen von rund 150 Personen aus allen Landesteilen der Slowakei. Bei den ersten Protesten im März 2018 gelang es, rund 150.000 Menschen zu mobilisieren – die größte Massenbewegung seit den antikommunistischen Demonstrationen 1989.
Ein Teil der Protestierenden fordert vorzeitige Parlamentswahlen, vor allem aber geht es ihnen darum, der Korruption in der Politik ebenso ein Ende zu setzen wie der Ausbeutung staatlicher Ressourcen zur privaten Bereicherung und der Einschränkung der Rechtsstaatlichkeit zugunsten einer Machtelite. Man kämpft darum, den akuten Problemen der Bürger, seien sie Bauern, Lehrer, Journalisten oder Krankenpfleger, Gehör zu verschaffen. Die Größe der Demonstrationen ging zwar zurück (von 65.000 Teilnehmern beim ersten Protest in Bratislava auf rund 6.000 bei der achten Veranstaltung), doch die Hauptforderungen blieben unverändert: eine gründliche Untersuchung der Mordtat und Maßnahmen, um das Vertrauen in die Politik wiederherzustellen.
Wandel versus Kontinuität
Nichts davon wurde bisher erreicht. Die Proteste setzten zwar der dritten Amtszeit von Robert Fico ein Ende, an dessen Stelle sein vormaliger Stellvertreter Peter Pellegrini trat, doch die Regierungskoalition aus SMER, der sozialdemokratischen Partei, den slowakischen Nationalisten und MOST-HÍD blieb an der Macht. Dies trotz interner Konflikte, die zum Rücktritt des Justiz- und Kulturministers führten. Gleichzeitig hat Fico unverkennbar noch immer großen Einfluss auf die Vorgangsweise der Regierung. Neue Nominierungen, wie jene von Denisa Saková, der früheren Staatssekretärin von Róbert Kaliňák, als Innenministerin und von Kaliňáks engem Vertrauten Milan Lučanský als Polizeichef lassen annehmen, dass statt eines tiefgreifenden Umbaus in der Regierung Kontinuität angesagt ist. Mit ihrem weiterhin bestehenden Durchgriff auf Schlüsselstellen im Staat können die Regierungsparteien sich nach wie vor staatliche und EU-Gelder sichern und frühere Affären verschleiern.
Zudem setzt die Regierung weiter darauf, der Bevölkerung Probleme vorzugaukeln, die es real nicht gibt: So heißt es, von Soros unterstützte NGOs würden einen gewalttätigen Staatsstreich vorbereiten, die Proteste würden von der Opposition „maidanisiert“, Flüchtlinge werden zur Bedrohung für das Land stilisiert, die Rede ist von „Diktaten“ aus Brüssel und der „Wühlarbeit“ von Journalisten gegen die Regierung. Damit wird die Atmosphäre im Land vergiftet und ein allgemeines Klima des Misstrauens gegenüber der Bürgerprotestbewegung und der Angst vor Bedrohungen von außen geschaffen, während die Regierungsparteien sich selbst als Garanten von Ordnung und Sicherheit darstellen.
Verdächtige führen Untersuchungen
All das passiert, während die Ermittlungen im Fall des Doppelmordes an dem jungen Paar, das am 25. Februar zu Hause tot aufgefunden worden war, noch immer kein Ergebnis erbracht haben.Vier Tatverdächtige wurden von der Polizei Ende September in Haft genommen. Mehr dazu auf Aktuality.sk Vielfach wird angezweifelt, dass die Ermittlungen sachgerecht und unparteiisch geführt werden, da Kuciaks Recherchen über großangelegte Steuerhinterziehungen auch Hinweise auf mögliche Straftaten und Steuerbetrug von Geschäftsleuten aus dem engeren Kreis um den früheren Ministerpräsidenten Fico und Innenminister Kaliňák ergaben. Mängel bei der Untersuchung des Tatortes und die vor kurzem erfolgte Beschlagnahme des Telefons von Kuciaks tschechischer Kollegin Paula Holcová lassen große Zweifel an der Ermittlungsarbeit der slowakischen Polizei aufkommen.
Bisher gab es auch keine angemessene Reaktion auf die Ergebnisse der Recherchen von Kuciak, die höchstwahrscheinlich der Grund für seine Ermordung waren. In einem unvollendeten Artikel für das Nachrichtenportal Aktuality.sk beschrieb Kuciak kriminelle Praktiken in der slowakischen Landwirtschaft unter Beteiligung der italienischen Mafia-Organisation ’Ndrangheta, von der enge Beziehungen zur Regierungspartei SMER bestehen. Die Fortführung seiner Recherchen durch ein internationales investigatives Team hat weitere Erkenntnisse erbracht.
Bereits davor äußerte eine Sonderdelegation des Europaparlaments Besorgnis über Missstände in der Zahlstelle für die Landwirtschaft, was von der Staatsanwaltschaft im Mai 2018 bestätigt wurde. Die “parallele Realität” von Korruption und organisiertem Verbrechen steht in klarem Gegensatz zur prinzipiell soliden gesetzlichen Basis. Bislang wurde jedoch nichts unternommen, um einer Situation Einhalt zu gebieten, in der lokale Landwirte Opfer von Erpressung und Einschüchterung werden, während andere Personen Subventionen für nicht zur Landwirtschaft taugliche „Betonfelder“ oder Grundstücke im Besitz Dritter erhalten. Die politisierte Exekutive ist für eine Besserung der Situation auch keine Hilfe. So werden EU-Finanzierungen nach wir vor zum Ziel korrupter Praktiken, mit dem Ziel persönlicher Bereicherung von Oligarchen und deren Freunden und Beschützern in der Politik.
Medienfreiheit in Gefahr
Trotz der allgemeinen Empörung, die der Mord an dem jungen Journalisten in der Slowakei und international auslöste, schwenkten führende Politiker in ihrer Rhetorik schon bald wieder auf ihre “normale” Haltung ein, attackierten Journalisten und versuchten ihre Arbeit lächerlich zu machen, vor allem dort, wo es um Korruption in höchsten politischen Kreisen geht. Die Slowakei fiel dadurch in der weltweiten Rangliste der Pressefreiheit (2018 World Press Freedom Index) von Platz 17 auf Platz 27 zurück.
Noch beunruhigender sind die Vorgänge in der nationalen Rundfunkanstalt RTVS: Ihre Leitung liegt in den Händen von Jaroslav Rezník von der Slowakischen Nationalpartei, dem Juniorpartner in der Regierungskoalition. Rezník wurde im Juni 2017 vom Parlament zum neuen Direktor von RTVS bestellt. In der Folge wurden Mitarbeiter ausgetauscht, die neue Führung schaffte das investigative Programm ab, stellte die Arbeit der Reporter zunehmend in Frage und mischte sich in die Berichterstattung ein. Schließlich verließen etliche Reporter und Redakteure – freiwillig oder unfreiwillig – den Sender.
Das Interesse der Slowakischen Nationalpartei daran, RTVS von einer öffentlichen zu einer staatlich gelenkten Institution zu machen, um noch mehr Durchgriff zu haben, lässt die Sorge um die Unabhängigkeit der Medien im Land wachsen, ebenso wie die ständigen Verbalattacken gegen Journalisten und die zunehmende Legitimierung von Falschinformationen durch Politiker. Bislang wurde die Slowakei – insbesondere im Vergleich mit den anderen Staaten der Visegrád-Gruppe – als ein Land gelobt, das seine Medienfreiheit bewahrt hat, doch nun ist dieser Grundpfeiler der Demokratie gefährdet.
Politik ohne Repräsentation
Die Protestbewegung ist eine positive Kraft, die ein Ende der systematischen Ausbeutung des Staates durch Machtklüngel, die Wiederherstellung der Unabhängigkeit der Medien und eine saubere Politik fordert. Für viele ist sie jedoch nur „Politik ohne Repräsentation“, denn es gibt keine Ambitionen, aus der zivilgesellschaftlichen Bewegung eine politische Kraft zu formen – was zugleich Stärke und Schwäche der Bewegung ist.
So gibt es zwar die Forderung nach einer tiefgreifenden Veränderung, doch es fehlt eine Alternative zur derzeitigen Regierung. Den größten Zuspruch bei den Wählern hat weiterhin die sozialdemokratische SMER, allerdings ist die Unterstützung von 40 % im März 2015 auf 25 % im März 2018 zurückgegangen. Die Oppositionsparteien – führend unter ihnen: „Freiheit und Solidarität“ – sind zerstritten und haben die Chance vertan, ein stärkerer Herausforderer für die Regierung zu werden, während die Partei des Extremisten Kotleba weiter 8 bis 10 % Zustimmung erhält.
Die kommenden zwei Jahren, in denen vier Wahlgänge stattfinden (Lokalwahlen im November 2018, Präsidentschaftswahl Anfang 2019, Wahlen zum Europaparlament im Mai 2019 und zum slowakischen Parlament 2020), werden entscheidend dafür sein, ob die Stimme des Protests auch auf politischer Ebene ihre Repräsentation findet.
Der bevorstehende Machtkampf wird auch ein Gradmesser dafür sein, wie gut die Grundsätze der liberalen Demokratie in der Slowakei verankert sind. 2018 ist ein Jahr von großer symbolischer Bedeutung für die Entwicklung eines neuen Verständnisses von Demokratie und europäischen Werten. Für die Slowakei ist es ein Gedenkjahr: Vor 20 Jahren erhob sich die Bürgerbewegung, die zur Niederlage von Vladimír Mečiar führte, vor 30 Jahren fand mit der Kerzendemonstration der erste antikommunistische Protest statt, vor 50 Jahren der Prager Frühling, vor 70 Jahren kam es zur kommunistischen Machtübernahme, und es ist das 100-Jahr-Jubiläum der Gründung der ersten Republik Tschechoslowakei. Angesichts der aktuellen Entwicklungen in den Visegrád-Staaten und der in ganz Europa erstarkenden populistischen und illiberalen Strömungen ist die bevorstehende Aufgabe des “Gedenkjahres” würdig.
Original auf Englisch. Erstmals publiziert am 20. Juli 2018 im Eastblog (Blog der Forschungsgruppe Osteuropa am Institut für Politikwissenschaft der Universität Wien).
Aus dem Englischen von Vera Ribarich.
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Urheberrechtliche Angaben zu Bildern, Grafiken und Videos sind direkt bei den Abbildungen vermerkt. Titelbild: Demonstration zum Gedenken an den ermordeten Journalisten Ján Kuciak und seine Verlobte Martina Kušnírová in Bratislava am 2. März 2018. Foto: (CC BY-SA 2.0) Peter Tkáč.