{"id":3739,"date":"2021-01-07T00:00:00","date_gmt":"2021-01-07T00:00:00","guid":{"rendered":"https:\/\/erste-foundation.byinfinum.co\/die-macht-der-mythenbildung\/"},"modified":"2021-07-06T13:18:23","modified_gmt":"2021-07-06T13:18:23","slug":"die-macht-der-mythenbildung","status":"publish","type":"post","link":"https:\/\/tippingpoint.net\/de\/die-macht-der-mythenbildung\/","title":{"rendered":"Die Macht der Mythenbildung"},"content":{"rendered":"\n\n\t\n\t\t\t
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\n\tIn seinem wegweisenden Essay \u201eDie Trag\u00f6die Mitteleuropas\u201c schrieb Milan Kundera: Aufgrund seines politischen Systems z\u00e4hlt Mitteleuropa zum Osten, aufgrund seiner Kulturgeschichte zum Westen. Da Europa jedoch gerade seine eigene kulturelle Identit\u00e4t abhanden zu kommen scheint, betrachtet es Mitteleuropa rein als politisches Regime, oder anders gesagt: Mitteleuropa gilt ihm ausschlie\u00dflich als Osteuropa.
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\n\t[\u2026] Mitteleuropa sollte sich daher nicht nur gegen seinen gro\u00dfen, dominanten Nachbarn auflehnen, sondern auch gegen den subtilen und doch unerbittlichen Zeitdruck, denn das Ende der \u00c4ra der Kultur naht. Das ist auch der Grund, warum Volkserhebungen in Mitteleuropa etwas Konservatives, beinahe Anachronistisches an sich haben: Das Volk versucht verzweifelt, die Vergangenheit wiederauferstehen zu lassen, die vergangene Kultur, die vergangene Moderne. Mitteleuropa vermag seine Identit\u00e4t nur in dieser vergangenen Zeit, nur in einer Welt, die ihre kulturelle Dimension beibeh\u00e4lt, verteidigen zu k\u00f6nnen bzw. nur dann als das gesehen zu werden, was es ist.<\/p>\t\t\t<\/div>\n\t\t<\/div>\n\t<\/div>\n\n\n\n\n\t\n\t\t\t

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\n\tKunderas elit\u00e4re Vision von Kultur und ihrer Rolle im kommunistischen Mitteleuropa mag ihre Berechtigung haben, mit Bestimmtheit liegt jedoch weit mehr als ein K\u00f6rnchen Wahrheit in seiner Beobachtung, dass eine Reise nach Mitteleuropa aus westeurop\u00e4ischer Sicht eher eine Aufgabe f\u00fcr die Kulturpal\u00e4ontologie sei. Die Pflicht zur Hochhaltung der eigenen Geschichte ist die Essenz des Bandes, das die Nation zusammenh\u00e4lt. Die Nation mag \u201eeine vorgestellte politische Gemeinschaft\u201c (Benedict Anderson) sein, sie ist jedoch realer als jede andere staatliche Institution und jedes andere Unterscheidungsmerkmal (wie z. B. Klasse, Ethnie, Geschlecht). Sie ist realer, weil sie mit einer Menge Sinnstiftung versehen wurde. Und es ist fast ausschlie\u00dflich diese vorgestellte Vergangenheit der Nation, die zu jenem Zeitpunkt m\u00f6glicherweise noch gar nicht geboren war, die zur Mythenbildung herangezogen wird.<\/p>\t\t\t<\/div>\n\t\t<\/div>\n\t<\/div>\n\n\n\n\n\t\n\t\t\t

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\n\tDer Verrat. Der ungleiche Kampf. Der Tapfere. Der Tolerante. Die Verteidiger des Glaubens. All diese Narrative entstanden durch ein \u00fcberraschend anachronistisches Bildungssystem, das nicht nur der Form nach, sondern auch in seiner Formung junger Menschen an die Schule des 19. Jahrhunderts erinnert. Die Musik ist komponiert, aber wer kann die Melodie spielen? Ausl\u00e4ndische Beobachterinnen und Beobachter sind immer wieder \u00fcber das Ausma\u00df des Nationalismus in Polen \u00fcberrascht, auch in der scheinbar liberalen und kosmopolitischen Mittelschicht. Sogar die Jungen, die dritte Generation nach dem Krieg, k\u00f6nnen n\u00e4chtelang \u00fcber 1939 diskutieren und wie sich das Land zwischen Nazideutschland und der kommunistischen Sowjetunion verhalten h\u00e4tte sollen.<\/p>\t\t\t<\/div>\n\t\t<\/div>\n\t<\/div>\n\n\n\n\n\t\n\t\t\t

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\n\tMarcin Napi\u00f3rkowski zeigt in seinem Buch \u201eTurbopatriotyzm\u201c, wie die Vergangenheit zur Rechtfertigung der Gegenwart herangezogen wird. Der ausweglose Untergrundkrieg der sogenannten \u201eVersto\u00dfenen Soldaten\u201c (\u017co\u0142nierze wykl\u0119ci<\/em>) gegen die kommunistische Besetzung nach 1944\/45 rechtfertigt den Kampf der Regierung gegen die \u201epostkommunistischen Gerichte\u201c. Nicht der Rede wert, dass nur 10 % der aktiven Richterinnen und Richter ihre Berufslaufbahn vor 1989 begannen, und keine oder keiner von ihnen am Obersten Gericht \u2012 es geht um den Mythos, der zur Rechtfertigung von Handlungen im Hier und Jetzt heraufbeschworen wird.<\/p>\t\t\t<\/div>\n\t\t<\/div>\n\t<\/div>\n\n\n\n\n\t\n\t\t\t

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\n\tDie kommunistische Propaganda diskreditierte nachhaltig jede Art von Soziolekt, und zwar so sehr, dass es der Linken nach 1989 einfach nicht gelang, die Aufmerksamkeit in nennenswertem Ausma\u00df auf sich zu ziehen. Pragmatischer Postkommunismus herrschte vor, bis auch die Unterst\u00fctzung daf\u00fcr 2005 zusammenbrach. Die enge neoliberale Vorstellung, wonach die Politik besser die Finger von der Wirtschaft lassen sollte \u2012 eine Vorstellung, die von beinahe der gesamten politischen Elite und allen Medien geteilt wurde, zumindest bis zur Krise von 2007\/08 \u2012 verhinderte erfolgreich einen Aufstand gegen den Kapitalismus. <\/p>\t\t\t<\/div>\n\t\t<\/div>\n\t<\/div>\n\n\n\n\n\t\n\t\t\t

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\n\tGleichzeitig befasste man sich im Zuge des politischen Systemwechsels haupts\u00e4chlich mit den Rahmenbedingungen (Recht, Wirtschaft, Regeln) und nicht mit dem eigentlichen Gegenstand des Systemwechsels (die Nation selbst sowie ihre Selbstwahrnehmung) und dessen inneren Beweggr\u00fcnden. Die technokratische Sprache der 1990er- und fr\u00fchen 2000er-Jahre schien auch f\u00fcr die Analyse von kulturellen Minderwertigkeitskomplexen besonders unpassend. Die Gesamtheit des polnischen Nationalkanons scheint auf gewisse Weise die Opferrolle zu kompensieren, zu erh\u00f6hen und sogar zu verherrlichen \u2013 in einem Ausma\u00df, in dem nur noch nationale Trag\u00f6dien heraufbeschworen werden k\u00f6nnen, um die Nation f\u00fcr eine gemeinsame Sache zu einen und zu mobilisieren. Die Trauer.<\/p>\t\t\t<\/div>\n\t\t<\/div>\n\t<\/div>\n\n\n\n\n\t\n\t\t\t

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\n\tDer Spiegel, den sich die Nation selbst vorh\u00e4lt, scheint zerbrochen zu sein. Zumindest aus der Sicht der \u201eModerne\u201c erwies sich der Begriff \u201ePolitik der Geschichte\u201c (polityka historyczna) \u2013 also wie sich der Staat und seine Vertreterinnen und Vertreter Geschichte ann\u00e4hern, welche Art von Aktivit\u00e4ten, Initiativen, Museen usw. sie unterst\u00fctzen \u2013 als Fluch. Der Mainstream \u00fcberlie\u00df die Mythenbildung der Rechten. Und diese wusste ihre Zeit zu nutzen. Heute enth\u00e4lt fast jede ma\u00dfgebliche Zeitschrift oder Zeitung Beilagen zum Thema Geschichte, und B\u00fccher \u00fcber die \u201eFrauen des Widerstandes\u201c oder die \u201eGeburt des polnischen Staates\u201c f\u00fcllen die Regale der Buchhandlungen.<\/p>\t\t\t<\/div>\n\t\t<\/div>\n\t<\/div>\n\n\n\n\n\t\n\t\t\t

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\n\tEine individualistische Betrachtungsweise des Systemwechsels verlangte nach Geschichten der Emanzipation: \u00fcber das Judentum und die uns\u00e4glichen Judenpogrome w\u00e4hrend der deutschen Besatzung und nach der Befreiung durch die Rote Armee. Geschichten von Intellektuellen, die sich nach dem \u201eHegelschen Biss\u201c (wie Czeslaw Milosz es nannte, wenn er jene meinte, die an den Kommunismus glaubten) neu orientierten und fortan die Opposition aktiv unterst\u00fctzten. Das waren aber keine Geschichten, die die breite \u00d6ffentlichkeit mit ihrer eigenen Vergangenheit in Verbindung brachten \u2013 und Identifikation damit zulie\u00dfen. Ganz im Gegenteil. Die Vergangenheit sollte entzaubert werden.<\/p>\t\t\t<\/div>\n\t\t<\/div>\n\t<\/div>\n\n\n\n\n\t\n\t\t\t

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\n\tDass die Nation aus einer Gruppe besteht, deren Verbindung in den gemeinsamen Illusionen (manche w\u00fcrden auch L\u00fcgen dazu sagen) \u00fcber ihre gemeinsame Geschichte liegt, f\u00fchrte zu der unm\u00f6glichen Aufgabe, mit diesen Illusionen ein f\u00fcr alle Mal aufzur\u00e4umen. Wenn jedoch einzig diese Geschichte die Menschen verbindet, dann kann man an dieser Aufgabe nur scheitern. Wohlmeinende prowestliche Kr\u00e4fte wollten der Seele der jungen polnischen Demokratie den potenziell bedenklichen nationalen Geist austreiben. Als das lineare Ziel des Systemwechsels \u2013 das Land im Westen und in dessen Institutionen zu verankern \u2013 erreicht war, wurde jedoch ersichtlich, wie sehr man mit diesem Ansinnen gescheitert war.<\/p>\t\t\t<\/div>\n\t\t<\/div>\n\t<\/div>\n\n\n\n\n\t\n\t\t\t

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\n\tWenn die Gegenwart mittels der vermeintliche \u00dcbereinstimmung mit der imaginierten Vergangenheit validiert wird, dann gewinnt der st\u00e4rkere Mythos. Seit seinem Anbeginn dominierte der rechte Fl\u00fcgel das Internet (traditionelle Medien sind Mangelware), was sich als die lohnendste politische Investition der letzten 30 Jahre erwies. Sobald man die Verbreitungsmacht der sozialen Medien gezielt zu nutzen wusste, erreichte man auch mit Nischenpublikationen ein enormes Publikum. Verschw\u00f6rungstheorien, pers\u00f6nliche Angriffe, Aufdeckung falscher (kommunistischer) Ahnen, \u201ewahre\u201c Geschichten rund um den Geheimdienst und den ehemaligen Pr\u00e4sidenten, die in Wirklichkeit aus bekannten Thrillern stammten (wahre Geschichte). Wenn es hart auf hart geht, dann ist jedes Mittel recht, um den Feind zu schlagen.<\/p>\t\t\t<\/div>\n\t\t<\/div>\n\t<\/div>\n\n\n\n\n\t\n\t\t\t

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\n\tDen Mythos der \u201eVersto\u00dfenen Soldaten\u201c zu bem\u00fchen, eignet sich daher perfekt zur Diskreditierung der Realit\u00e4t, in der der Wettstreit um Macht als \u201eWeg zur Leibeigenschaft\u201c dargestellt wird, eine Art postkommunistische Matrix, wo geheime Verbindungen alles erkl\u00e4ren: von Anh\u00e4ufungen von Verm\u00f6gen in den Jahren 1989\/90 bis zum Zusammenbruch der sozialistischen Planwirtschaften und seinen monstr\u00f6sen Fabrikanlagen. Am wichtigsten bei alledem ist jedoch, dass sie jenen als psychologische Entlastung dienen, die damit ihre wahren oder eingebildeten Misserfolge der Vetternwirtschaft oder der Skrupellosigkeit ihrer Mitb\u00fcrgerinnen und Mitb\u00fcrger zuschreiben k\u00f6nnen. Der Liberalismus mit individueller Erfolgsgeschichte, in der pers\u00f6nliche Handlungen sowohl positive als auch negative Auswirkungen haben, ist einfach kein probates Heilmittel mit vergleichbarer Wirkung.<\/p>\t\t\t<\/div>\n\t\t<\/div>\n\t<\/div>\n\n\n\n\n\t\n\t\t\t

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\n\tErstmals publiziert am 24. Mai 2019 auf\u00a0europesfutures.eu<\/a>.<\/em>

Dieser Text ist urheberrechtlich gesch\u00fctzt: \u00a9 Leszek Ja\u017cd\u017cewski. Bei Interesse an Wiederver\u00f6ffentlichung bitten wir um Kontaktaufnahme mit der\u00a0
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Urheberrechtliche Angaben zu Bildern, Grafiken und Videos sind direkt bei den Abbildungen vermerkt. Titelbild: Rechtsextreme w\u00e4hrend eines j\u00e4hrlichen Marsches zum Unabh\u00e4ngigkeitstag am 11. November 2020 in Warschau. Viele Teilnehmer tauchten in Autos und Motorr\u00e4dern auf, um Social Distancing zu wahren. Andere marschierten zu Fu\u00df, und einige in Kampfausr\u00fcstung warfen Feuerwerksk\u00f6rper auf Lokale, die entweder LGBT-Regenbogenfahnen oder Symbole gegen die Regierung Au\u00dfen angebracht hatten. Foto: \u00a9 Newspix \/ Action Press \/ picturedesk.com<\/em><\/p>\t\t\t<\/div>\n\t\t<\/div>\n\t<\/div>\n\n\n\n\n\t\n\t\t\t

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