{"id":3615,"date":"2019-05-14T00:00:00","date_gmt":"2019-05-14T00:00:00","guid":{"rendered":"https:\/\/erste-foundation.byinfinum.co\/timothy-snyder-judenplatz-1010\/"},"modified":"2021-07-01T05:44:12","modified_gmt":"2021-07-01T05:44:12","slug":"timothy-snyder-judenplatz-1010","status":"publish","type":"post","link":"https:\/\/tippingpoint.net\/de\/timothy-snyder-judenplatz-1010\/","title":{"rendered":"Timothy Snyder: Judenplatz 1010"},"content":{"rendered":"\n\n\t\n\t\t\t
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\n\tDie Gr\u00fcndung der Europ\u00e4ischen Union war urspr\u00fcnglich das Resultat gescheiterter oder scheiternder europ\u00e4ischer Imperien, auch wenn die Europ\u00e4ische Union heute eher als Vereinigung unschuldiger kleiner Nationalstaaten auftritt. Sich der Verantwortung f\u00fcr ein halbes Jahrtausend Imperialismus zu stellen ist schmerzhaft, aber es w\u00fcrde Europa erm\u00f6glichen, sich auf einzigartige und vielversprechende Weise von ihrer imperialen Vergangenheit zu erholen, so Timothy Snyder in seiner Rede zum Europatag 2019 am Judenplatz in Wien.<\/strong><\/p>\t\t\t<\/div>\n\t\t<\/div>\n\t<\/div>\n\n\n\n\n\t\n\t\t\t

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\n\tMein Name ist Timothy Snyder. Ich bin ein amerikanischer Historiker und wurde gebeten, eine Nachricht an Europa zu \u00fcberbringen. Das hier ist sie. Ihr seid mehr als eure Mythen. F\u00fcr uns Au\u00dfenstehende seid ihr auch ein Quell der Hoffnung; vielleicht sogar der einzige Quell der Hoffnung f\u00fcr die Zukunft. Ihr seid mehr als eure Mythen. Wir stehen hier heute zusammen auf dem Judenplatz am 9. Mai 2019. Der 9. Mai ist in diesem Jahr noch bis Sonnenuntergang der israelische Unabh\u00e4ngigkeitstag. Heute ist Unabh\u00e4ngigkeitstag in Israel. Der 9. Mai ist in Moskau oder Kiew oder Minsk der Tag des Sieges. In diesen und anderen europ\u00e4ischen St\u00e4dten wurde heute der Sieg \u00fcber Nazideutschland und seiner vielen europ\u00e4ischen Verb\u00fcndeten im Zweiten Weltkrieg gefeiert, bedacht und erinnert.<\/p>\t\t\t<\/div>\n\t\t<\/div>\n\t<\/div>\n\n\n\n\n\t\n\t\t\t

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\n\tWir sind hier versammelt, gerade an diesem heutigen Tag, dem 9. Mai, um an die Rede Robert Schumans, die Erkl\u00e4rung Robert Schumans, am heutigen Tag des Jahres 1950 zu erinnern. Als Schuman erkl\u00e4rte, Europe sei nicht nur f\u00fcr die Europ\u00e4er da, dass es bei Europa um einen Frieden f\u00fcr die ganze Welt gehe. Wie k\u00f6nnen wir uns dieser drei Dinge gleichzeitig erinnern? Wie k\u00f6nnen wir uns ihrer sinnvollerweise als Geschichte erinnern, als jener Art von Geschichte, die uns den Weg in die Zukunft weisen kann? Wie erinnern wir uns des Holocausts, des Zweiten Weltkriegs und des Beginns des europ\u00e4ischen Projekts gemeinsam als einer Geschichte?<\/p>\t\t\t<\/div>\n\t\t<\/div>\n\t<\/div>\n\n\n\n\n\t\n\t\t\t

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\n\tWie k\u00f6nnen wir an die Erschaffung des europ\u00e4ischen Projekts vor 70 Jahren denken und zugleich fragen: Wird es heute neugestaltet oder abgewickelt? F\u00fcr mich als Historiker h\u00e4ngt die Antwort auf diese Frage sehr davon ab, ob ihr, Europ\u00e4er, euch f\u00fcr den Mythos entscheidet, oder ob ihr, Europ\u00e4er, die Geschichte w\u00e4hlt. Es gibt zwei M\u00f6glichkeiten des Erinnerns. Die eine f\u00fchrt euch auf euch selbst zur\u00fcck, zu einer Erz\u00e4hlung dar\u00fcber, dass ihr immer recht hattet, einer Erz\u00e4hlung dar\u00fcber, dass ihr selbst oder Leute wie ihr immer unschuldig wart. Das ist Mythos. Das ist nationaler Mythos. Er hat fast \u00fcberall die Oberhand und k\u00f6nnte sie durchaus auch hier gewinnen.<\/p>\t\t\t<\/div>\n\t\t<\/div>\n\t<\/div>\n\n\n\n\n\t\n\t\t\t

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The ERSTE Foundation Tipping Point Talks 2019<\/h1><\/p>\t\t\t<\/div>\n\t\t<\/div>\n\t<\/div>\n\n\n\n\n\t\n\t\t\t
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Eine Rede an Europa 2019<\/h2>
Timothy Snyder: Judenplatz 1010

Er\u00f6ffnung<\/strong>
Boris Marte, ERSTE Stiftung<\/p>\t\t\t<\/div>\n\t\t<\/div>\n\t<\/div>\n\n\n\n\n\t\n\t\t\t
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\n\tEs gibt noch eine andere Art des Erinnerns, und das ist die Geschichte. Sie erm\u00f6glicht es, das, was man selbst erinnert, zu nehmen und es dem hinzuzuf\u00fcgen, was andere erinnern, es konstant und kritisch anderen Quellen und anderen Perspektiven beizustellen, damit man erkennt, wof\u00fcr man selbst verantwortlich ist. Als Schuman seine Erkl\u00e4rung im Mai 1950 verlas, befand sich Frankreich inmitten eines Kolonialkriegs, in dem 75.000 franz\u00f6sische Soldaten umkommen sollten. Die \u00fcbergro\u00dfe Mehrheit dieser 75.000 franz\u00f6sischen Soldaten waren, was ihr Herkunftsland anging, \u00fcberhaupt keine Franzosen. Frankreich steckte im ersten von zwei Kolonialkriegen; nach dem Zweiten Weltkrieg f\u00fchrte es 16 Jahre lang ununterbrochen Kolonialkriege, zuerst in S\u00fcdostasien und sp\u00e4ter in Nordafrika.<\/p>\t\t\t<\/div>\n\t\t<\/div>\n\t<\/div>\n\n\n\n\n\t\n\t\t\t

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\n\tIm Frankreich der 1950er und 60er Jahre stand der Ausdruck \u201el\u2019int\u00e9gration\u201c nicht unbedingt f\u00fcr europ\u00e4ische Integration. L\u2019int\u00e9gration<\/em> konnte auch die Verantwortung der franz\u00f6sischen Armee f\u00fcr die Integration von Arabern in den franz\u00f6sischen Staat meinen. Nach 1961 bezeichnete \u201el\u2019int\u00e9gration\u201c die M\u00f6glichkeit, dass die Franzosen in den neuen Staat Algerien integriert werden k\u00f6nnten. Warum erz\u00e4hle ich das? Weil der Mythos, den ihr alle habt, der Mythos, den ihr alle teilt, der Mythos der Freunde wie auch der Feinde der Europ\u00e4ischen Union der Mythos eines Nationalstaats ist. Jener Robert Schuman, der 1950 seine Erkl\u00e4rung abgab, war der Au\u00dfenminister eines Imperiums. Frankreich, ob es nun \u201eRepublik\u201c oder \u201eKaiserreich\u201c im Namen f\u00fchrte, war \u00fcber seine ganze Geschichte hinweg stets ein Imperium.<\/p>\t\t\t<\/div>\n\t\t<\/div>\n\t<\/div>\n\n\n\n\n\t\n\t\t\t

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\n\tIhr seid mehr als eure Mythen. Doch damit ihr auch mehr sein k\u00f6nnt als eure Mythen, damit ihr die Hoffnung sein k\u00f6nnt, die wir anderen Au\u00dfenstehenden brauchen, muss man mit der Geschichte ins Reine kommen. Die Auffassung, dass Europa eine Gruppe von Nationalstaaten ist, die Integration aufweisen, ist ein ganz, ganz fataler Mythos.<\/p>\t\t\t<\/div>\n\t\t<\/div>\n\t<\/div>\n\n\n\n\n\t\n\t\t\t

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\n\tMan k\u00f6nnte und sollte \u00fcber die Zukunft Europas streiten. Doch wenn die Diskussion \u00fcber diese Zukunft auf der Grundlage von Mythen \u00fcber Dinge stattfinden soll, die nie der Fall gewesen sind, dann kann sie nicht fruchtbar sein. In der Geschichte geht es darum, den Weg freizumachen, und in den n\u00e4chsten Minuten will ich versuchen, dies zu tun, oder einige der Mythen beiseite zu r\u00e4umen, sodass die Zeit sinnvoll von der Vergangenheit in die Gegenwart und in diejenige Zukunft flie\u00dfen kann, die wir brauchen. Denken Sie mit mir also bitte f\u00fcr einen Augenblick an die L\u00e4nder, die die Europ\u00e4ische Union gegr\u00fcndet oder das europ\u00e4ische Projekt begr\u00fcndet haben. Deutschland, Westdeutschland, war gerade erst im einschneidendsten und katastrophenreichsten Kolonialkrieg aller Zeiten, zumindest in Europa, besiegt worden \u2013 dem Krieg, den wir als den Zweiten Weltkrieg erinnern. Auch Italien hatte gerade erst einen Kolonialkrieg in Afrika und auf dem Balkan verloren. Die Niederlande hatten einen Kolonialkrieg verloren, den sie von 1945 bis 1949 gef\u00fchrt haben. Belgien hat 1960 den Kongo verloren. Frankreich vollzog nach seiner Niederlage in Indochina und in Algerien Anfang der 1960er Jahre eine entschiedene Wende Richtung Europa. Charles de Gaulle hatte verstanden, dass nicht nur die Republik, sondern der ganze franz\u00f6sische Staat durch das Imperium in Gefahr war. Er leitete 1962 die entschiedene Wende Richtung Europa ein. Keine der europ\u00e4ischen M\u00e4chte, die das europ\u00e4ische Projekt begr\u00fcndet haben, war zu jener Zeit ein Nationalstaat. Und keine von ihnen ist es je zuvor gewesen.<\/p>\t\t\t<\/div>\n\t\t<\/div>\n\t<\/div>\n\n\n\n\n\t\n\t\t\t

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\n\tTimothy Snyder<\/h2>\n\t
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\n\tTimothy Snyder ist Richard-C.-Levin-Professor f\u00fcr Osteurop\u00e4ische Geschichte an der Yale Universit\u00e4t (USA) und ein Permanent Fellow am Institut f\u00fcr die Wissenschaften vom Menschen (IWM) in Wien. Er ist einer der renommiertesten Historiker und sch\u00e4rfsten Kritiker der US-Regierung unter Donald Trump. Seine B\u00fccher Bloodlands und Black Earth wurden in viele Sprachen \u00fcbersetzt und mit mehreren Preisen ausgezeichnet. Sein aktuelles Werk tr\u00e4gt den Titel The Road to Unfreedom (2018).

Foto: \u00a9 ERSTE Stiftung \/ APA-Fotoservice \/ Richard Tanzer<\/em><\/p>\n\t<\/div>\n<\/div>\n\t<\/div>\n\n<\/div>\n\n\n\n

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\n\tDasselbe gilt f\u00fcr die L\u00e4nder, die der Europ\u00e4ischen Union beigetreten sind, die ersten Beitrittsl\u00e4nder. Die Briten haben damals in den 1960er Jahren sehr klar verstanden, dass Europa in Sachen Handel und Macht der Ersatz f\u00fcr das Imperium war. Historiker zu sein hat so viel damit zu tun, den Leuten Dinge zu erz\u00e4hlen, die sie schon mal gewusst haben. In den 60er Jahren verstand der gesamte britische Staatsdienst, fast das gesamte Parlament und fast die ganze britische Elite, dass Europa der Ersatz f\u00fcr das Imperium war. Als das portugiesische Imperium oder das spanische Imperium in den 1970er Jahren an sein Ende kommt, spielt sich der Prozess simultan ab. Die F\u00fchrer des Wandels in Portugal und Spanien verbinden das Ende von Imperium, den Anfang von Demokratie und Integration, zurecht mit der Europ\u00e4ischen Union. Diese Dinge finden gleichzeitig statt. Die Europ\u00e4ische Union ist das Werk gescheiterter oder im Scheitern begriffener europ\u00e4ischer Imperien. Nach 1989, nach dem Ende des \u00e4u\u00dferen sowjetischen Imperiums, nach dem Ende der Sowjetunion, dehnt sich die EU immer noch aus. Sie erstreckt sich jetzt auf L\u00e4nder, die Teil jenes Imperiums gewesen sind. Und sie tut bemerkenswerterweise etwas noch viel Fundamentaleres. Wenn wir n\u00e4mlich \u00fcber die L\u00e4nder nachdenken, die der EU in den 1990er und in den 2000er Jahren beigetreten sind \u2013 dieses Land \u00d6sterreich, die Tschechoslowakei, Polen und die baltischen Staaten, dann waren dies allesamt L\u00e4nder, die 1918 nach dem Ersten Weltkrieg entstanden sind. Sie alle haben damals aufgeh\u00f6rt zu existieren. Die Geschichte der Nationalstaaten in Europa ist tendenziell scheu\u00dflich, tierisch und kurz.<\/p>\t<\/div>\n\n<\/div>\n\n<\/div>\n\t\t\t<\/div>\n\t\t<\/div>\n\t<\/div>\n\n\n\n\n\t\n\t\t\t

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    \n\tAls sich die Europ\u00e4ische Union w\u00e4hrend der 1990er und 2000er Jahre vergr\u00f6\u00dfert, gibt sie den nach dem Ersten Weltkrieg gegr\u00fcndeten Staaten eine Heimat. Die Europ\u00e4ische Union ist ein Verbund von zwei Arten von Staaten: solchen, die im Zentrum von Imperien standen, und solchen, die sich an der Peripherie von Imperien befanden. Das alles hat aber mit Imperien zu tun. Es ist ungew\u00f6hnlich, am Europatag Algerien zu erw\u00e4hnen, oder Angola oder den Kongo, oder Indien, Indochina, Indonesien, Malaysia, Marokko oder Mosambik. Es ist ungew\u00f6hnlich, aber man muss es tun, denn dort war in diesen letzten 70 Jahren Europa. Im Verlauf ihres R\u00fcckzugs von diesen Orten haben die Europ\u00e4er jenes Europa geschaffen, das wir kennen.<\/p>\t\t\t<\/div>\n\t\t<\/div>\n\t<\/div>\n\n\n\n\n\t\n\t\t\t

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    \n\tDies ist wichtig, weil euer Mythos von Europa, eure Vorstellung, dass \u201eihr als Nationalstaaten euch zur Schaffung Europas zusammengetan habt\u201c, statt der Idee, dass \u201eihr euch als scheiternde Imperien zur Schaffung Europas zusammengetan habt\u201c, eure Aufmerksamkeit ablenkt, und zwar nicht nur von der Verantwortung f\u00fcr Imperien, sondern auch vom Ausma\u00df eurer eigenen Errungenschaften.<\/p>\t\t\t<\/div>\n\t\t<\/div>\n\t<\/div>\n\n\n\n\n\t\n\t\t\t

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    \n\tDie europ\u00e4ische Erz\u00e4hlung ist h\u00fcbsch. Sie ist eine h\u00fcbsche Story dar\u00fcber, dass da einmal nette, unschuldige, kleine europ\u00e4ische Nationalstaaten waren, die es auf ihre nette Art und Weise hinbekommen haben, dass ihre wirtschaftlichen Interessen sie geeint haben. Das ist eine h\u00fcbsche kleine Erz\u00e4hlung, aber nicht Geschichte. Die Geschichte des 20. Jahrhunderts ist die von europ\u00e4ischen M\u00e4chten, die in den vergangenen 500 Jahren die Welt beherrscht haben, sich selbst dazu gezwungen sahen, sich nach Europa zur\u00fcckzuziehen, und dort etwas Neues geschaffen haben. Schuman verlas seine Erkl\u00e4rung im Jahr 1950, und in ihren Elementen und Urspr\u00fcngen totaler Herrschaft<\/em> von 1951 sprach Hannah Arendt davon, dass das Wesen der menschlichen Freiheit in der Erschaffung neuer Dinge bestehe. Und die Europ\u00e4ische Union ist so ein neues Ding<\/em>.<\/p>\t\t\t<\/div>\n\t\t<\/div>\n\t<\/div>\n\n\n\n\n\t\n\t\t\t

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    \n\tWas ich \u00fcber das Ged\u00e4chtnis in Mythos und Geschichte gesagt habe, gilt nun umso mehr f\u00fcr die Geschichte des Holocausts, wie wir uns seiner erinnern \u2013 oder uns seiner nicht zu erinnern entschlie\u00dfen. Wir stehen vor einem Mahnmal f\u00fcr den Holocaust, genauer einem Mahnmal f\u00fcr die 65.000 B\u00fcrger \u00d6sterreichs, die als Juden ermordet wurden \u2013 Kinder, Frauen und M\u00e4nner \u2013, nachdem \u00d6sterreich 1938 zerst\u00f6rt worden war. In gewissem Sinne ist dieses Mahnmal vertraut. Wir sind hier in Wien, und wir k\u00f6nnen uns andere vorstellen, die in Wien gelebt haben. Wir sind hier in \u00d6sterreich und glauben, wir k\u00f6nnten uns wahrscheinlich ausmalen, wie eine deutsche \u00dcbernahme des Landes ausgesehen haben muss. Doch wenn wir uns das Mahnmal genauer anschauen, wenn wir es nach diesem Vortrag einmal umrunden und uns die Namen ansehen, die an seinem Sockel angebracht sind, die Namen der Orte<\/em>, an denen die Juden \u00d6sterreichs tats\u00e4chlich ermordet worden sind, dann sind die Dinge pl\u00f6tzlich weniger vertraut. Die meisten dieser St\u00e4dte, die meisten dieser Orte sind den meisten \u00d6sterreichern nicht bekannt, und zwar aus dem sehr guten Grund, dass die \u00f6sterreichischen Juden nicht in \u00d6sterreich, sondern sehr weit weg umgebracht worden sind. Direkt hinter mir, am anderen Ende des Mahnmals, steht der Name Maly Trostinec, was in Wei\u00dfrussland liegt. An diesem belorussischen Ort wurden mehr \u00f6sterreichische Juden, mehr Juden aus dieser Stadt ermordet als irgendwo sonst. Warum war das so? Warum wurden die \u00f6sterreichischen Juden so weit entfernt von ihrer Heimat umgebracht? Sie wurden so weit weg ermordet, wegen des letzten europ\u00e4ischen Versuchs, ein Imperium zu schaffen. Darin bestand der Zweite Weltkrieg in Europa.<\/p>\t\t\t<\/div>\n\t\t<\/div>\n\t<\/div>\n\n\n\n\n\t\n\t\t\t

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    \n\tWenn wir uns heute erinnern, des Holocausts, des Zweiten Weltkriegs und des Versuchs des Wiederaufbaus, dann m\u00fcssen wir uns des Holocausts und des Krieges auch so erinnern, wie sie wirklich waren. Wir d\u00fcrfen uns zudem nicht erlauben, des Holocausts so zu gedenken, wie er bruchst\u00fcckhaft Einzug in unser jeweiliges nationales Ged\u00e4chtnis gefunden hat. Das nationale Ged\u00e4chtnis ist nicht gut genug. Der Holocaust war ein Ereignis von einer Dimension, die sich dem nationalen Ged\u00e4chtnis widersetzt, ein Ereignis in der Geschichte, und es hatte drei grundlegende Ursachen, die sowohl f\u00fcr die Geschichte, aber auch f\u00fcr die k\u00fcnftige M\u00f6glichkeit der Europ\u00e4ischen Union wesentlich sind. Eine davon ist \u00f6kologische Panik. \u00d6kologische Panik. Hitlers Begr\u00fcndung daf\u00fcr, warum Deutschland ein Imperium werden sollte, lautet, dass die Zeit ablief, das Land knapp war und die Deutschen sich dessen bem\u00e4chtigen sollten, was sie brauchten, bevor es andere tun w\u00fcrden. Hitler hat explizit gesagt, dass Wissenschaft und Technik uns nicht retten werden; wir m\u00fcssen von anderen nehmen. \u00d6kologische Panik. Die zweite grundlegende Quelle oder Ursache des Holocausts ist Entmenschlichung. Die Vorstellung, dass, da wir von anderen nehmen m\u00fcssen, die anderen nur insoweit von Wert sind, wie sie uns dienlich sein k\u00f6nnen. Die Vorstellung, dass Menschen buchst\u00e4blich quantifiziert werden k\u00f6nnen. Die nach den Juden gr\u00f6\u00dfte Opfergruppe unter den Nichtkombattanten im Zweiten Weltkrieg war die der sowjetischen Kriegsgefangenen. Drei Millionen von ihnen wurden tats\u00e4chlich deshalb umgebracht, weil man glaubte, die Kosten f\u00fcr ihre Ern\u00e4hrung w\u00fcrden den Wert ihrer Arbeitsleistung \u00fcbersteigen. <\/p>\t\t\t<\/div>\n\t\t<\/div>\n\t<\/div>\n\n\n\n\n\t\n\t\t\t

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    \n\tEine Rede an Europe 2019 | Timothy Snyder: Judenplatz 1010. Foto: \u00a9 ERSTE Stiftung \/ APA-Fotoservice \/ Richard Tanzer<\/p>\t<\/figcaption>\n<\/figure>\n\t\t\t<\/div>\n\t\t<\/div>\n\t<\/div>\n\n\n\n\n\t\n\t\t\t

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    \n\tDie dritte fundamentale Ursache dieses sehr speziellen, grausamen Imperiums, des deutschen Imperiums, des Imperiums von Deutschland und seinen Verb\u00fcndeten, \u00d6sterreich und anderer, ist die Staatszerst\u00f6rung. Durch die Zerst\u00f6rung \u00d6sterreichs, durch die Zerst\u00f6rung der Tschechoslowakei, durch die Zerst\u00f6rung Polens und der baltischen Staaten, durch die versuchte Zerst\u00f6rung der Sowjetunion schufen die Deutschen und ihre Verb\u00fcndeten in Europa ein Gebiet, auf dem es keine Staaten gab und keine Gesetze und wo Dinge m\u00f6glich waren, die unter anderen Umst\u00e4nden nicht m\u00f6glich gewesen w\u00e4ren. Das ist es, was Imperien tun. Sie erkennen andere nicht als Staatsb\u00fcrger an, sie erkennen andere Staaten nicht an, sie schaffen Zonen, in denen das Grauen m\u00f6glich ist.<\/p>\t\t\t<\/div>\n\t\t<\/div>\n\t<\/div>\n\n\n\n\n\t\n\t\t\t

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    \n\tDie Juden stehen nun bei all dem im Mittelpunkt. Den Juden wurde von Hitler vorgeworfen, sie w\u00fcrden glauben, dass die Wissenschaft uns alle mit Antworten auf die \u00f6kologische Krise versorgen k\u00f6nne. Den Juden wurde von Hitler vorgehalten, sie w\u00fcrden behaupten, dass Menschen andere Menschen auf Grundlage eines Prinzips der Solidarit\u00e4t anerkennen sollten. Christliche N\u00e4chstenliebe, Sozialismus, Rechtsstaatlichkeit, das war f\u00fcr Hitler alles das Gleiche. Die Juden waren schuld, wenn Menschen andere Menschen als Menschen statt als Angeh\u00f6rige einer Rasse anerkannten. Und nat\u00fcrlich waren es in diesem Land wie auch anderswo die Juden, die am meisten gelitten haben, und die Juden, die als Erste gelitten haben, nachdem der Staat zerst\u00f6rt war.<\/p>\t\t\t<\/div>\n\t\t<\/div>\n\t<\/div>\n\n\n\n\n\t\n\t\t\t

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    \n\tWenn ich sage, dass ihr mehr seid als euer Mythos, dann meine ich, ihr seid schlimmer als euer Mythos. Dann meine ich, dass ihr m\u00e4chtiger seid als euer Mythos. Ich meine, dass der Mythos, den ihr habt, euch nicht nur davon ablenkt, das Ausma\u00df der europ\u00e4ischen Verantwortung f\u00fcr die Vergangenheit zu erkennen, sondern euch auch vom Ausma\u00df der europ\u00e4ischen Verantwortung f\u00fcr die Zukunft ablenkt. Es ist sehr leicht, wenn auch sehr wichtig, zu sagen, dass die Europ\u00e4er das Ausma\u00df des Holocausts und mit ihm zusammenh\u00e4ngender Verbrechen nicht in G\u00e4nze erkannt haben. Es ist sehr leicht zu sagen, und andere vor mir haben es auch schon gesagt, so etwa Frantz Fanon, Aim\u00e9 C\u00e9saire oder Hannah Arendt, dass n\u00e4mlich der Holocaust Teil einer gr\u00f6\u00dferen Geschichte von europ\u00e4ischen Imperien ist. Es ist wichtig, das zu sagen.<\/p>\t\t\t<\/div>\n\t\t<\/div>\n\t<\/div>\n\n\n\n\n\t\n\t\t\t

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    \n\tSchwieriger einzusehen ist, dass es hier nicht nur um Ethik geht, sondern auch um Macht. Die Europ\u00e4er haben sich selbst entm\u00e4chtigt, ihr habt euch selbst entm\u00e4chtigt, indem ihr eure Vergangenheit falsch verstanden habt. Wenn ihr wissen wollt, wie so etwas anderenorts aussieht, dann schaut auf die Vereinigten Staaten von Amerika. Die gegenw\u00e4rtige missliche Lage der USA ist ein unmittelbares Ergebnis unseres eigenen Missverst\u00e4ndnisses unserer imperialen Vergangenheit. Ihr seid nicht weit weg von uns, aber ihr habt immer noch die Chance dazu, es besser zu machen. Der Grund daf\u00fcr, warum es darauf ankommt, die Vergangenheit richtig zu verstehen, ist nicht blo\u00df ein ethischer, sondern auch eine Machtfrage. Eure kleinen unplausiblen nationalen Mythen lassen euch nicht erkennen, dass ihr einmal die Welt beherrscht habt. Und eure kleinen unplausiblen nationalen Mythen erlauben euch nicht die Einsicht, dass die Europ\u00e4ische Union die eine erfolgreiche Antwort auf die allerwichtigste Frage in der Geschichte der modernen Welt ist, ja auf die eine zentrale Frage, die da lautet: Was ist nach Imperien zu tun? Wie umgehen mit Imperien? Darauf gibt es zwei schlechte oder begrenzte Antworten: Nationalstaaten schaffen oder noch mehr Imperium. Die Europ\u00e4ische Union ist die einzige neue fruchtbare und produktive Antwort auf diese Frage. Und deshalb lautet meine Botschaft an euch, dass ihr mehr seid als eure Mythen, dass ihr f\u00fcr uns, die wir Au\u00dfenstehende sind, auch ein Quell der Hoffnung seid. Denn wenn man Au\u00dfenstehender ist, und ich spreche hier nat\u00fcrlich vom relativ privilegierten Standpunkt eines Amerikaners aus, wenn man drau\u00dfen ist, dann ist einem eine Sache ganz klar, die hier im Inneren nicht so klar ist, und das ist der Umstand, dass diese Welt immer noch eine imperiale Welt ist.<\/p>\t\t\t<\/div>\n\t\t<\/div>\n\t<\/div>\n\n\n\n\n\t\n\t\t\t

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    \n\tIhr habt eine riesige Sonderzone in einem sehr positiven Sinne geschaffen. Ihr habt die gr\u00f6\u00dfte Volkswirtschaft der Weltgeschichte aufgebaut, ihr habt jene Reihe durchg\u00e4ngig funktionierender Wohlfahrtsstaaten und Demokratien geschaffen. Nirgends auf der Welt gibt es etwas Vergleichbares. Au\u00dferhalb von hier gibt es immer noch Imperium. Und au\u00dferhalb von hier sind die von mir genannten drei Motive, die fundamentalen Motive von Imperium und des besonders grausamen Imperiums, das der Holocaust war, immer noch da.<\/p>\t\t\t<\/div>\n\t\t<\/div>\n\t<\/div>\n\n\n\n\n\t\n\t\t\t

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    \n\tBitte seht sie euch gemeinsam mit mir an: \u00f6kologische Panik, Entmenschlichung und Staatszerst\u00f6rung. \u00d6kologische Panik herrscht \u00fcberall. Wir stehen vor einer sehr realen und sehr dringlichen \u00f6kologischen Notlage, die sich am deutlichsten an der globalen Erw\u00e4rmung zeigt. Und wir stehen politischen Parteien und Anf\u00fchrern gegen\u00fcber, die uns erz\u00e4hlen, dass die dahinterstehende Wissenschaft unrecht h\u00e4tte oder zweifelhaft sei oder dass wir abwarten sollten. Und es ist doch sehr, sehr auff\u00e4llig, dass die Leute, die uns erz\u00e4hlen, die globale Erw\u00e4rmung sei kein Problem oder dass wir noch warten k\u00f6nnten oder die wissenschaftlichen Ergebnisse falsch sind, exakt dieselben sind, die uns sagen, dass Fl\u00fcchtlinge unsere Feinde seien und Zuwanderer unsere Feinde seien und einige Rassen anders seien als andere. <\/p>\t\t\t<\/div>\n\t\t<\/div>\n\t<\/div>\n\n\n\n\n\t\n\t\t\t

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    \n\tIch w\u00fcrde nicht im Traum daran denken, euch als Europ\u00e4ern zu sagen, wem ihr bei den anstehenden Europawahlen eure Stimme geben solltet. Als Amerikaner sage ich aber dies: W\u00e4hlt nicht die Partei, die die globale Erw\u00e4rmung leugnet, denn die Partei, die die globale Erw\u00e4rmung leugnet, verr\u00e4t euch damit drei Dinge \u00fcber sich selbst. Sie verr\u00e4t euch, dass sie \u00fcber alles l\u00fcgen wird, sie verr\u00e4t euch, dass sie sich f\u00fcr das Schicksal eurer Kinder und Kindeskinder nicht interessiert, und sie verr\u00e4t euch, dass sie das Werk von Kohlenwasserstoff-Oligarchen ist. Und wenn ihr in Europa seid, sind es nicht einmal eure eigenen Kohlenwasserstoff-Oligarchen. Die tiefere Ironie liegt nat\u00fcrlich darin, dass dieselben Parteien, die euch Europ\u00e4ern erz\u00e4hlen, dass die globale Erw\u00e4rmung kein Problem ist, auch jene sind, die euch erz\u00e4hlen, dass Migranten ein Problem sind. Wenn ihr nichts gegen die globale Erw\u00e4rmung tut, dann wird es zu unkontrollierter Einwanderung kommen, weil die Klimaerw\u00e4rmung den globalen S\u00fcden viel h\u00e4rter trifft als den globalen Norden. Das ist \u00f6kologische Panik. Und die Europ\u00e4ische Union ist eine der wenigen Stellen auf der Welt, die etwas dagegen tut.<\/p>\t\t\t<\/div>\n\t\t<\/div>\n\t<\/div>\n\n\n\n\n\t\n\t\t\t

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    \n\tStaatszerst\u00f6rung heute. Manche der zerfallenen Staaten sind aufgrund \u00f6kologischer Probleme zerfallen, zumindest teilweise. Was von Europa aus wie ein unkontrollierter Fl\u00fcchtlings- oder Migrantenstrom wirkt, hat mit der Schw\u00e4che des Staates an Orten wie Ruanda, dem Sudan oder in letzter Zeit auch Syrien zu tun. Staaten werden zudem zerst\u00f6rt, weil Gro\u00dfm\u00e4chte, ob gedankenlos oder sonstwie, entscheiden, sie zu zerst\u00f6ren \u2013 so war es mit dem amerikanischen Einmarsch in den Irak und mit der russischen Invasion der Ukraine. Was innerhalb der Europ\u00e4ischen Union nicht sichtbar ist, doch von drau\u00dfen betrachtet so klar vor Augen liegt, ist, dass die Europ\u00e4ische Union den europ\u00e4ischen Staat st\u00e4rkt. Diese ganze Diskussion, die ihr innerhalb der EU \u00fcber Souver\u00e4nit\u00e4t f\u00fchrt, ergibt keinen Sinn. Noch nie hat es so viele nebeneinander bestehende europ\u00e4ische Staaten gegeben, niemals. Dass sie innen- und au\u00dfenpolitisch so stark sind, liegt an der Europ\u00e4ischen Union. Die EU macht die Staaten im Inneren st\u00e4rker, indem sie den Wohlfahrtsstaat hier leichter macht als anderswo. Und erneut w\u00fcrde ich etwas als Amerikaner zu Protokoll geben wollen: dass man n\u00e4mlich den Unterschied sp\u00fcrt. Die Europ\u00e4ische Union sch\u00fctzt den Staat zudem nach au\u00dfen hin, weil sie der m\u00e4chtigste Prellbock f\u00fcr die Kr\u00e4fte der Globalisierung ist, den es auf der Welt gibt. Wenn ihr den Unterschied erleben wollt, dann verlasst die EU. Das ist eine rhetorische Aussage. Verlasst die Europ\u00e4ische Union nicht!<\/p>\t\t\t<\/div>\n\t\t<\/div>\n\t<\/div>\n\n\n\n\n\t\n\t\t\t

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    \n\tSchlie\u00dfen m\u00f6chte ich mit dem dritten Motiv. \u00d6kologischer Zusammenbruch, Staatszerst\u00f6rung, und das dritte Motiv ist Entmenschlichung. Und an dieser Stelle m\u00fcsst ihr ein wenig mit mir zusammen denken. Wir haben diesen Vortrag, wir haben diese Veranstaltung aus einem bestimmten Grund Judenplatz 1010<\/em> genannt. Aus drei Gr\u00fcnden. Wir wollen, dass ihr mit diesen Zahlen, 1010, \u00fcber den Holocaust selbst nachdenkt. Links von mir steht der Name Treblinka. Juden wurden aus dem Warschauer Ghetto nach Treblinka geschickt, weil sie als weniger produktive Arbeitskr\u00e4fte eingestuft worden waren. Man befand, dass die von ihnen konsumierten Kalorien mehr wert waren als die von ihnen geleistete Arbeit. Dies ist ein Artefakt der industriellen Welt, uns einfach nur als Arbeitskr\u00e4fte zu beurteilen, als Objekte, die physische Arbeit verrichten. Die Menschenrechtstradition hat hierauf eine Antwort. Sie sagt: In Treblinka wurden 780.863 Menschen, einzelne menschliche Wesen, ermordet. Und dass wir uns an jedes einzelne davon nicht als eine Quantit\u00e4t, sondern als eine Qualit\u00e4t erinnern m\u00fcssen. Dass wir vom Ende anfangen k\u00f6nnen, mit jenen drei Leuten am Ende, einer dreik\u00f6pfigen Familie vielleicht oder drei Freunden. Stellt euch die Opfer nicht als Teil einer gro\u00dfen Gruppe, einer gesichtslosen Gruppe, sondern als einzelne menschliche Wesen vor. Stellt euch vor, dass der Unterschied zwischen eins und null keine Quantit\u00e4t ist, sondern der Unterschied zwischen eins und null ist ein Unterschied in der Qualit\u00e4t. Dass jedes Opfer, wie auch jeder von uns, ein irreduzibel anderes menschliches Wesen ist.<\/p>\t\t\t<\/div>\n\t\t<\/div>\n\t<\/div>\n\n\n\n\n\t\n\t\t\t

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    \n\tEine Rede an Europe 2019 | Timothy Snyder: Judenplatz 1010. Foto: \u00a9 ERSTE Stiftung \/ APA-Fotoservice \/ Richard Tanzer<\/p>\t<\/figcaption>\n<\/figure>\n\t\t\t<\/div>\n\t\t<\/div>\n\t<\/div>\n\n\n\n\n\t\n\t\t\t

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    \n\tDoch heute befinden wir uns in einer anderen Lage, wo die Menschenrechte auf andere Weise bedroht sind. Wir befinden uns in einem Zustand von schwer wahrzunehmendem, aber dennoch sehr realem digitalen Imperium, wo M\u00e4chte herrschen, die wir nicht sehen, und dabei Techniken gebrauchen, die wir nicht verstehen, und Gesetzen folgen, die keine Gesetze des Menschen sind, Gesetze, die nicht von Staaten gemacht werden. Wir k\u00f6nnen dies undeutlich an den Beispielen erkennen, an der Art und Weise, auf die China seine B\u00fcrger nach einem Punktesystem bewertet, an der Art und Weise, auf die das Silicon Valley Menschen \u00fcberall auf der Welt Zugang zu Manipulationswerkzeugen verschafft, und an der Art und Weise, auf die die Russische F\u00f6deration Wahlen beeinflusst. Ihr in Europa habt die Werkzeuge, die geistigen Werkzeuge, um damit umgehen zu k\u00f6nnen. Frantz Fanon formulierte in seiner Kritik des Imperialismus in Algerien das Argument, dass es bei uns nicht ums Wie<\/em>, sondern ums Warum<\/em> geht. Damit macht er auch einen Punkt f\u00fcr uns im 21. Jahrhundert. Die digitale Welt n\u00e4mlich reduziert uns auf unsere vorhersehbarsten und einfachsten Reaktionen, macht uns zu Karikaturen unserer selbst, zu Werkzeugen weit entfernter privatwirtschaftlicher und politischer Instanzen, die wir nicht einmal sehen k\u00f6nnen. Sie macht uns zu Wie<\/em>– statt zu Warum<\/em>-Wesen. Oder denken wir an den polnischen Philosophen Leszek Ko\u0142akowski, der gesagt hat: Denkt daran, das Menschsein ist selbst eine menschliche Kategorie. Wenn die Entscheidungen nicht von Menschen getroffen werden, dann k\u00f6nnen wir auch nicht erwarten, dass die Kategorie des Menschseins noch f\u00fcr uns da ist. Oder nehmen wir den russischen Philosophen Michail Bachtin, der gesagt hat, dass, wenn man eine L\u00fcge glaubt, man zu einem Objekt wird. Was aber, wenn die L\u00fcge, die man glaubt, einem von einem Objekt erz\u00e4hlt wird? K\u00f6nnen wir verlangen, dass sich das Objekt f\u00fcr moralisch verantwortlich h\u00e4lt? Ihr habt die Werkzeuge, ihr braucht die Zeit. Simone Weil hat gesagt: \u201eWir brauchen warme Stille und bekommen eisigen Aufruhr\u201c. Ihr k\u00f6nnt die warme Stille haben, wenn ihr es wollt; die Europ\u00e4ische Union hat, anders als irgendeine andere Instanz auf der Welt, positive Fortschritte in Sachen digitaler Menschenrechte gemacht. Ich w\u00fcrde gerne betonen, dass die Europ\u00e4ische Union es schaffen kann, und zwar aus folgendem Grund: Wenn man in einem Land lebt, auch in einem gro\u00dfen und wichtigen Land wie den Vereinigten Staaten, in dem eine wichtige Entscheidung wie etwa ein Referendum oder eine Pr\u00e4sidentschaftswahl von einer digitalen Kampagne entschieden oder sichtlich beeinflusst wird, dann werden die Sieger dieser Entscheidung dem niemals nachgehen. In einer solchen Welt leben wir bereits, wo politische Systeme, die man kennt und respektiert, etwa das britische oder amerikanische, sich nicht mehr selbst \u00fcberpr\u00fcfen k\u00f6nnen, weil es ihnen schon passiert ist. Nur die Europ\u00e4ische Union kann es tun, weil sie kein nationales politisches System ist. Was kann sie tun? Vier Dinge. Es gibt mindestens vier M\u00f6glichkeiten f\u00fcr die Europ\u00e4ische Union, um die \u2013 wie ich es nennen will \u2013 Menschlichkeit zu bewahren. Denn in Wirklichkeit gibt es nur ein \u201ewir und sie\u201c: Die Menschlichkeit ist das \u201eWir\u201c. Die erste M\u00f6glichkeit ist Antimonopolismus. Die amerikanischen Konzerne sind zu gro\u00df und der amerikanische Staat war nicht in der Lage, sie in den Griff zu bekommen. Der zweite Weg ist Bildung. Die deutsche Philosophin Edith Stein \u2013 die, solange noch in Deutschland Philosophie gelehrt hat, bis es ihr nicht mehr m\u00f6glich war \u2013, die deutsche Philosophin Edith Stein, die in Auschwitz ermordet wurde, was hier zu meiner Rechten steht, hat gesagt, dass es eine objektive Verbindung zwischen Bildung und Menschlichkeit gibt. Sollten wir wirklich, in Deutschland, \u00d6sterreich oder Polen oder anderswo, wo \u00fcber diese Frage nachgedacht wird, sollten wir also wirklich die Bildung unserer Kinder in die H\u00e4nde von Dingen legen, die nicht menschlich sind? Soll das geschehen? Vielleicht sollten wir in Europa warten. Vielleicht sollten wir nicht genau das tun, was die Amerikaner machen, vielleicht sollten wir die Tablets einfach nicht in die Klassenzimmer einf\u00fchren, \u00fcberhaupt nicht, niemals.<\/p>\t\t\t<\/div>\n\t\t<\/div>\n\t<\/div>\n\n\n\n\n\t\n\t\t\t

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    \n\tDrittens: Faktentreue. Die digitale Welt funktioniert so, dass sie immer weniger Fakten immer weiter ausd\u00fcnnt und zu immer umfassenderen Fantasien verdreht. Die beste Reaktion darauf ist die Erzeugung von mehr Fakten. Fakten kommen nicht von irgendwoher, sondern werden von Journalisten geschaffen, die die Helden unserer Zeit sind. Eine Europ\u00e4ische Union, der an der Zukunft gelegen ist, wird eine sein, die es einfacher macht, Journalist zu werden.<\/p>\t\t\t<\/div>\n\t\t<\/div>\n\t<\/div>\n\n\n\n\n\t\n\t\t\t

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    \n\tDie vierte M\u00f6glichkeit ist Souver\u00e4nit\u00e4t. Die gro\u00dfe Frage lautet immer: Woher kommen die Populisten? Es ist leichter, sie zu beantworten, wenn man sich klarmacht, dass Populisten in Wirklichkeit die Digitalisten sind. Der Populismus nimmt an, dass da irgendwo Menschen dahinterstecken. Aber ist es nicht seltsam oder interessant, dass diese ganzen populistischen Parteien genau diejenigen sind, die sich auf so effiziente Weise der digitalen Technologien bedient haben? Und ist es nicht interessant, dass sie genau die Parteien sind, die die Europ\u00e4ische Union mithilfe dieser Technologien angreifen? Und ist es nicht interessant, dass es stets eine \u00dcberlappung gibt zwischen diesen Populisten und der Leugnung der globalen Erw\u00e4rmung und einigen fragw\u00fcrdigen Einstellungen gegen\u00fcber dem Staat? Ist es nicht interessant, wie all das zusammenh\u00e4ngt?<\/p>\t\t\t<\/div>\n\t\t<\/div>\n\t<\/div>\n\n\n\n\n\t\n\t\t\t

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    \n\tIst es nicht interessant, dass ihr Feinde habt? Und ist es nicht interessant, dass eure Feinde immer die Verteidiger eines v\u00f6llig untragbaren Status quo sind? Ist es nicht interessant, dass eure Feinde die Imperialisten einer schon jetzt ersch\u00f6pften Erde sind? Ist es nicht interessant, dass ihr Feinde habt? Warum habt ihr Feinde? Ihr habt Feinde, weil ihr eine Zukunft habt. Und habt ihr bemerkt, dass euch eure Feinde eure Zukunft wegnehmen? Habt ihr bemerkt, wie die Zukunft fast verschwunden ist aus dem Horizont der Politik? Das ist kein ungl\u00fccklicher Zufall. Und habt ihr bemerkt, dass eure Feinde \u2013 sie alle, die russischen, die amerikanischen, die chinesischen, die, deren Auftraggeber wir noch nicht kennen \u2013, habt ihr also bemerkt, dass sie euch immer an eurem schw\u00e4chsten Punkt angreifen, n\u00e4mlich an eurem Mythos? Sie greifen euch immer an eurem schw\u00e4chsten Punkt an, n\u00e4mlich an eurer Vorstellung, dass ihr Nationalstaaten habt und zu diesen zur\u00fcckkehren k\u00f6nnt. Darauf zielen sie immer ab. Sie erkennen eure Schw\u00e4che, auch wenn ihr sie selbst nicht seht. Dorthin zielen sie jedes Mal. Und damit m\u00f6chte ich nun schlie\u00dfen. Ihr seid verantwortlich, ihr Europ\u00e4er, daf\u00fcr, worauf euer Ged\u00e4chtnis sich richtet. Das Ged\u00e4chtnis kann sich beruhigenden Mythen zuwenden, in denen ihr klein seid und unschuldig und nur sehr wenig Verantwortung tragt f\u00fcr die Vergangenheit oder f\u00fcr die Zukunft. Oder das Ged\u00e4chtnis kann sich in die Geschichte begeben, in der ihr ein halbes Jahrtausend lang die Welt beherrscht habt, in der zweiten H\u00e4lfte des 20. Jahrhunderts etwas Neues erschaffen habt und jetzt eine besondere politische Verantwortung daf\u00fcr habt, wie sich die Dinge im 21. Jahrhundert entwickeln werden. Mit Blick auf die drei entscheidenden Fragen, die der \u00f6kologischen Panik, der Staatszerst\u00f6rung und der Humanisierung, verf\u00fcgt die Europ\u00e4ische Union \u00fcber mehr Macht als jede andere Instanz zum gegenw\u00e4rtigen Zeitpunkt. Ihr k\u00f6nnt also dem Mythos nachh\u00e4ngen, wenn ihr m\u00f6chtet, oder ihr k\u00f6nnt der Geschichte folgen, die in eine Zukunft f\u00fchrt, die zwar nicht gewiss, aber wenigstens real ist. Der Mythos wird euch Bequemlichkeit verschaffen, und Zersplitterung und Erniedrigung. Die Geschichte wird Schmerzen bringen, aber auch Macht.<\/p>\t\t\t<\/div>\n\t\t<\/div>\n\t<\/div>\n\n\n\n\n\t\n\t\t\t

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    \n\tWir stehen an einem Ort, der heute \u201eJudenplatz\u201c hei\u00dft. Vor Hunderten von Jahren nannten die Juden selbst ihn \u201eSchulhof\u201c. Und tats\u00e4chlich ist hier eine Schule, genau zu meiner Rechten und zu eurer Linken. In dieser Schule gibt es Kinder, die verwandt sind mit den Menschen, die an den auf diesem Mahnmal genannten Orten ermordet worden sind. Und in dieser Schule gibt es Kinder, die aus den Orten kommen, die auf diesem Mahnmal genannt werden. Schuman sprach von einem lebendigen Europa: \u201eUne Europe organis\u00e9e et vivante.\u201c Er sprach von einem lebendigen Europa. Er sprach von einem Europa, das schaffen sollte, \u201eune Europe cr\u00e9ateur\u201c. Was ich hoffe und erbitte, ist, dass, wenn wir an diese letzten 70 Jahre denken, wir sie uns nur so vorstellen, dass sie in die n\u00e4chsten 70 Jahre hin\u00fcberflie\u00dfen. Dass, wenn wir uns dessen erinnern, wir dies auf eine Weise tun m\u00fcssen, die genau dazu f\u00fchrt, auf eine Weise, die zu Schulen f\u00fchrt und zu Kindern und zu kommenden Generationen. Schuman sprach von einem Europa, das Frieden nicht nur f\u00fcr sich selbst, sondern auch f\u00fcr den Rest der Welt schafft. Und einem Nichteurop\u00e4er, der gebeten wird, zu Europ\u00e4ern zu sprechen, erscheint dies als besonders bedeutsam. Ihr seid mehr als eure Mythen. F\u00fcr uns Au\u00dfenstehende seid ihr auch ein Quell der Hoffnung f\u00fcr die Zukunft.<\/p>\t\t\t<\/div>\n\t\t<\/div>\n\t<\/div>\n\n\n\n\n\t\n\t\t\t

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    \n\tVielen Dank, dass Sie gemeinsam mit mir am Judenplatz 1010<\/em> waren.

    (Applaus)
    (Snyder weiter:)

    Ich kann nur reden. Sie m\u00fcssen es schaffen.<\/p>\t\t\t<\/div>\n\t\t<\/div>\n\t<\/div>\n\n\n\n\n\t\n\t\t\t

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    \n\tDies ist die Niederschrift der Rede von Timothy Snyder, die er anl\u00e4sslich des Europatags und als Teil des offiziellen Programms der Wiener Festwochen<\/a> am 9. Mai 2019 in Wien hielt. Diese Veranstaltung war die zweite von insgesamt vier Tipping Point Talks 2019<\/a> der ERSTE Stiftung zum Jubil\u00e4um 200 Jahre Sparkassenidee in \u00d6sterreich.
    Aus dem Englischen von Frank Lachmann.<\/em>

    Dieser Text ist urheberrechtlich gesch\u00fctzt: \u00a9 Timothy Snyder \/ Frank Lachmann. Bei Interesse an Wiederver\u00f6ffentlichung bitten wir um Kontaktaufnahme mit der
    Redaktion<\/a>.
    Urheberrechtliche Angaben zu Bildern, Grafiken und Videos sind direkt bei den Abbildungen vermerkt. Titelbild: Eine Rede an Europe 2019 | Timothy Snyder: Judenplatz 1010. Foto: \u00a9 ERSTE Stiftung \/ APA-Fotoservice \/ Richard Tanzer<\/em><\/p>\t\t\t<\/div>\n\t\t<\/div>\n\t<\/div>\n","protected":false},"excerpt":{"rendered":"

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