{"id":3601,"date":"2019-04-11T00:00:00","date_gmt":"2019-04-11T00:00:00","guid":{"rendered":"https:\/\/erste-foundation.byinfinum.co\/wirklich-geschlossen\/"},"modified":"2022-03-31T07:21:43","modified_gmt":"2022-03-31T07:21:43","slug":"wirklich-geschlossen","status":"publish","type":"post","link":"https:\/\/tippingpoint.net\/de\/wirklich-geschlossen\/","title":{"rendered":"Wirklich geschlossen?"},"content":{"rendered":"
\n\tDie sogenannte Balkanroute wurde im April 2016 \u201egeschlossen\u201c \u2013 allerdings nur politisch. Bosnien und Herzegowina erlebte gerade in den letzten Monaten einen erheblichen Anstieg an aus ihren Heimatl\u00e4ndern gefl\u00fcchteten Menschen, die schlussendlich hier gestoppt wurden. Warum stecken pl\u00f6tzlich rund 5.000 Menschen im Nordwesten Bosniens fest und leiden unter verheerenden Bedingungen, obwohl in Serbien eine solide, von der Europ\u00e4ischen Union finanzierte Versorgung bereit steht? Die Antworten sind in den lokalen Gegebenheiten und den beiden zentralen Krisenorten Bosniens, den nahe an der bosnisch-kroatischen Grenze liegenden St\u00e4dte Biha\u0107 und Velika Kladu\u0161a zu suchen.<\/strong><\/p>\t\t\t<\/div>\n\t\t<\/div>\n\t<\/div>\n\n\n \n\tSeit April 2018 haben internationale und nationale Medien das Thema der Balkanroute wieder auf die Tagesordnung gesetzt. Dieses Mal dreht es sich aber nicht um die Situation in Serbien, Ungarn oder Kroatien, sondern vielmehr um die Lage in Bosnien \u2013 genauer gesagt um den Nordwesten des Landes. Bis vor kurzem war das Land weder von der gro\u00dfen Migrationsbewegung seit 2015, noch von Schleppernetzwerken besonders betroffen. Bosnien wurde erst 2018 attraktiver, nachdem andere Routen in die Europ\u00e4ische Union schwieriger zu passieren waren. Hinzu kam, dass die angespannte politische Situation in Bosnien von gro\u00dfem Vorteil war, wenn es darum ging, direkte Verantwortlichkeiten des Staates zu vermeiden. Seitdem haben die beiden Grenzst\u00e4dte Biha\u0107 und Velika Kladu\u0161a einen massiven Zuwachs an MigrantInnen erlebt.<\/p>\t\t\t<\/div>\n\t\t<\/div>\n\t<\/div>\n\n\n \n\tGr\u00fcnde f\u00fcr die Krise in Bosnien und Herzegowina<\/strong> \n\tDie Kantonsregierung, sowie kommunale Beh\u00f6rden in Biha\u0107 und Velika Kladu\u0161a haben nur sehr beschr\u00e4nkte materielle und finanzielle Ressourcen, um die Grundbed\u00fcrfnisse der MigrantInnen zu sichern. Gleichzeitig erweisen sich der Staat und seine Institutionen als unf\u00e4hig, eine ad\u00e4quate Unterst\u00fctzung f\u00fcr beide St\u00e4dte zu gew\u00e4hrleisten. Die ExpertInnen, die mit den MigrantInnen in Biha\u0107 und Sarajewo arbeiten, haben darauf hingewiesen, dass die Mittel vom Staat, welche die Grundbed\u00fcrfnisse f\u00fcr in Bosnien ankommende Menschen sichern sollen, langfristig fehlen.<\/p>\t\t\t<\/div>\n\t\t<\/div>\n\t<\/div>\n\n\n \n\tEine koordinierte Politik gegen\u00fcber MigrantInnen in Bosnien erscheint aktuell nahezu unm\u00f6glich. Im politischen System Bosniens gibt es mindestens drei unterschiedliche institutionelle Kompetenzebenen, was dazu f\u00fchrt, dass sich keine der drei Institutionen zust\u00e4ndig f\u00fchlt. Im Falle Bosniens muss man die Staatsebene, die Regierung der zwei Entit\u00e4ten und den davon unabh\u00e4ngigen Entscheidungsfindungsprozess auf lokaler Ebene ber\u00fccksichtigen. Die Kantonspolizei in Biha\u0107 kann sich zum Beispiel nur mit kleineren Delikten in Verbindung mit MigrantInnen besch\u00e4ftigen, hat jedoch keine Kompetenzen, die Schlepperei oder den Schwarzhandel zu untersuchen.Straftatbest\u00e4nde, die den Staat als Gesamtes betreffen, wie etwa Schmuggel und andere Formen illegalen Handels, werden von den polizeilichen Beh\u00f6rden auf staatlicher Ebene untersucht. Diese haben wiederum weder die Kapazit\u00e4ten, noch den Willen, solche illegalen Aktivit\u00e4ten auf lokaler Ebene zu untersuchen. <\/sup> Diese Kompetenzen wiederum besitzen nur die Institutionen auf staatlicher Ebene. Die Polizei auf staatlicher Ebene wiederum hat nicht gen\u00fcgend Ressourcen, um ein so komplexes und geografisch entfernt liegendes Problem zu untersuchen. Diese Krise hat nicht zuletzt ein Klima erheblicher politischer Spannung zwischen beiden Entit\u00e4ten geschaffen. Der Pr\u00e4sident der Republika Srpska, Milorad Dodik, hat bereits im Mai 2018 behauptet, dass der Zustrom von MigrantInnen eine ethnische Bedrohung darstellen kann, wie es sich am Sprachgebrauch<\/a> seiner Reden oder Interviews ablesen l\u00e4sst. <\/p>\t\t\t<\/div>\n\t\t<\/div>\n\t<\/div>\n\n\n \n\tMittlerweile wurden im Bira Aufnahmezentrum in Biha\u0107 etwa 2000 Migranten untergebracht. T\u00e4glich werden drei Mahlzeiten, Decken, Hygiene und andere Notwendigkeiten zur Verf\u00fcgung gestellt. Foto: \u00a9 EXPA \/ Pixsell \/ picturedesk.com \/ Armin Durgut<\/p>\t<\/figcaption>\n<\/figure>\n\t\t\t<\/div>\n\t\t<\/div>\n\t<\/div>\n\n\n \n\tDie inzwischen angespannte Atmosph\u00e4re in Biha\u0107 erlebte eine turbulente Entwicklung, aus der manche einen Vorteil ziehen wollen. W\u00e4hrend lokale Beh\u00f6rden noch versuchen, sich zu orientieren und herauszufinden, wie man \u00fcberhaupt in diese Lage gekommen ist, hat die organisierte Kriminalit\u00e4t den (wirtschaftlichen) Vorteil aus der geringen geografischen Distanz zur EU erkannt. Das mangelnde Interesse in Sarajevo, die Spannungen zwischen den Entit\u00e4ten, das geringe Interesse der EU-L\u00e4nder und der Europ\u00e4ischen Union allgemein, haben zur Zuspitzung der Lage in Biha\u0107 und Velika Kladu\u0161a gef\u00fchrt. Dar\u00fcber hinaus verhindert die fortdauernde k\u00fcnstliche Spannung zwischen den Entit\u00e4ten, dass in der \u00d6ffentlichkeit die dringlichen Fragen bez\u00fcglich der Zust\u00e4ndigkeiten der Beh\u00f6rden \u00fcberhaupt verhandelt werden k\u00f6nnen.<\/p>\t\t\t<\/div>\n\t\t<\/div>\n\t<\/div>\n\n\n \n\tWie sieht die Realit\u00e4t vor Ort aus?<\/strong> \n\tNach Einsch\u00e4tzungen einer NGOs sind zwischen 70 und 80% der MigrantInnen \u00fcber Serbien in den bosnischen Kanton Una-Sana gekommen. Mehr als die H\u00e4lfte dieser Menschen geben an, dass Pakistan ihr Herkunftsland ist<\/a>. Auch Menschen aus Afghanistan, Irak, Iran und Marokko sind vor Ort. In vielen F\u00e4llen kommen sie aus den von serbischen Beh\u00f6rden betriebenen \u201eOne Stop Centres\u201c, wo ihnen Lebensmittel, eine Unterkunft und Bildungsm\u00f6glichkeiten f\u00fcr Kinder bereitgestellt werden. Dies sind wichtige Einrichtungen zur Erf\u00fcllung grundlegender Bed\u00fcrfnisse f\u00fcr jene, die in Serbien bleiben. Diese Zentren werden durch die finanzielle Unterst\u00fctzung der Europ\u00e4ischen Kommission betrieben.<\/p>\t\t\t<\/div>\n\t\t<\/div>\n\t<\/div>\n\n\n \n\tDie EU in der Verantwortung<\/strong> \n\tStattdessen wird die Krise in Bosnien benutzt, um verschiedene schwammige politische Ziele zu rechtfertigen, wie die Entsendung von Milit\u00e4r an die EU-Au\u00dfengrenze, wie von der \u00f6sterreichischen Regierung erst k\u00fcrzlich auf dem Gipfel in Salzburg im September 2018<\/a> vorgeschlagen. Es gibt nur wenig Interesse von Seiten der EU-L\u00e4nder, die organisierte Kriminalit\u00e4t als eines der gr\u00f6\u00dften Probleme der Migrationskrise, in diesem Fall am Balkan, anzuerkennen. Das Problem liegt weniger bei der politischen Situation der Institutionen Bosniens als in der Frage, wie ernst es die EU und ihre Mitgliedsstaaten es mit der Bek\u00e4mpfung von organisierter Kriminalit\u00e4t und Korruption in ihren L\u00e4ndern und in jenen ihrer Beitrittskandidaten am Westbalkan schlussendlich meinen.<\/p>\t\t\t<\/div>\n\t\t<\/div>\n\t<\/div>\n\n\n \n\tErstmals publiziert am 6. Dezember 2018 im Eastblog<\/a> (Blog der Forschungsgruppe Osteuropa am Institut f\u00fcr Politikwissenschaft der Universit\u00e4t Wien)<\/a>.<\/em> Michael Vit zur Lage der Migration \u00fcber die Balkanroute<\/p>\n","protected":false},"author":1,"featured_media":1689,"comment_status":"closed","ping_status":"closed","sticky":false,"template":"","format":"standard","meta":{"footnotes":""},"categories":[433,268],"tags":[293,545,449],"formats":[],"acf":[],"_links":{"self":[{"href":"https:\/\/tippingpoint.net\/de\/wp-json\/wp\/v2\/posts\/3601"}],"collection":[{"href":"https:\/\/tippingpoint.net\/de\/wp-json\/wp\/v2\/posts"}],"about":[{"href":"https:\/\/tippingpoint.net\/de\/wp-json\/wp\/v2\/types\/post"}],"author":[{"embeddable":true,"href":"https:\/\/tippingpoint.net\/de\/wp-json\/wp\/v2\/users\/1"}],"replies":[{"embeddable":true,"href":"https:\/\/tippingpoint.net\/de\/wp-json\/wp\/v2\/comments?post=3601"}],"version-history":[{"count":3,"href":"https:\/\/tippingpoint.net\/de\/wp-json\/wp\/v2\/posts\/3601\/revisions"}],"predecessor-version":[{"id":5523,"href":"https:\/\/tippingpoint.net\/de\/wp-json\/wp\/v2\/posts\/3601\/revisions\/5523"}],"wp:featuredmedia":[{"embeddable":true,"href":"https:\/\/tippingpoint.net\/de\/wp-json\/wp\/v2\/media\/1689"}],"wp:attachment":[{"href":"https:\/\/tippingpoint.net\/de\/wp-json\/wp\/v2\/media?parent=3601"}],"wp:term":[{"taxonomy":"category","embeddable":true,"href":"https:\/\/tippingpoint.net\/de\/wp-json\/wp\/v2\/categories?post=3601"},{"taxonomy":"post_tag","embeddable":true,"href":"https:\/\/tippingpoint.net\/de\/wp-json\/wp\/v2\/tags?post=3601"},{"taxonomy":"format","embeddable":true,"href":"https:\/\/tippingpoint.net\/de\/wp-json\/wp\/v2\/formats?post=3601"}],"curies":[{"name":"wp","href":"https:\/\/api.w.org\/{rel}","templated":true}]}}
Die aktuelle Krise in Biha\u0107 ist aus verschiedenen Gr\u00fcnden entstanden. Die N\u00e4he zur kroatischen EU-Au\u00dfengrenze, das relativ leicht zug\u00e4ngliche Gel\u00e4nde und somit die Aussicht auf eine baldige Ankunft in der Europ\u00e4ischen Union macht die Stadt als Zwischenstation attraktiv. Aktuell ist es der einfachste Weg in die EU, und damit in den Schengenraum. Zudem werden in der Region um Biha\u0107 illegale Aktivit\u00e4ten wie Menschenhandel nicht konsequent verfolgt. Die rechtsstaatlichen Mechanismen sind hier nicht besonders stark ausgepr\u00e4gt, die Institutionen leiden unter Dysfunktionalit\u00e4t. Die illegalen Aktivit\u00e4ten gehen Hand in Hand mit schmutzigen politischen Machtspielen im Zusammenhang mit den Parlamentswahlen, die in Bosnien und Herzegowina im Oktober 2018 stattfanden. Die \u201eKrise\u201c war ein willkommenes Thema, um wachsende Spannungen zwischen beiden Entit\u00e4ten zu vergr\u00f6\u00dfernDie von Bosniaken und Kroaten beherrschte F\u00f6deration Bosnien und Herzegowina und von die von Serben beherrschte Republika Srpska, RS. <\/sup>, aber ohne wesentliches und nachhaltiges Interesse, etwas an der Gesamtsituation zu \u00e4ndern. Die Fl\u00fcchtenden in Biha\u0107 haben sehr geringe Chancen legal in die Europ\u00e4ische Union zu gelangen, um dort einen Asylantrag zu stellen, was dem Gesch\u00e4ft von Schleppern zutr\u00e4glich ist.<\/p>\t\t\t<\/div>\n\t\t<\/div>\n\t<\/div>\n\n\n\n\t\n\t<\/div>\t
Einerseits gibt es hier Solidarit\u00e4t der Einheimischen gegen\u00fcber den in Not geratenen Menschen, was die hoffnungslose Lage der MigrantInnen im Vorhof der Europ\u00e4ischen Union jedoch nur bedingt verbessern kann \u2013 denn nur die wichtigsten Bed\u00fcrfnisse wie Nahrung, Erste Hilfe und ein Dach \u00fcber dem Kopf sind erf\u00fcllt. Andererseits haben illegale wirtschaftliche Aktivit\u00e4ten seit dem Beginn der lokalen Krise im April 2018 sowohl in Biha\u0107, als auch in Valika Kladu\u0161a einen bl\u00fchenden Aufschwung genommen. Es ist ein offenes Geheimnis, dass die Weiterreise nach Deutschland (h\u00e4ufigster Zielort) nur eine Frage des Geldes ist, unabh\u00e4ngig von den verst\u00e4rkten Grenzsicherungen. Die Besitzer kleiner Hotels oder von leeren Grundst\u00fccken haben nicht gez\u00f6gert, ihre Anlagen verschiedenen kriminellen Gruppen zur Verf\u00fcgung zu stellen, die unter anderem Schlepperei betreiben. Das geht so weit, dass selbst Touristen in einer Unterkunft, die \u00fcber booking.com gebucht wurde, dort kriminellen Gruppen vorfinden.<\/p>\t\t\t<\/div>\n\t\t<\/div>\n\t<\/div>\n\n\n
Es w\u00e4re naiv zu denken, dass sich sowohl die Europ\u00e4ische Union, als auch einzelne EU-L\u00e4nder der Situation in Bosnien, insbesondere in Biha\u0107, nicht bewusst sind. Seitdem die Balkanroute politisch \u201egeschlossen\u201c wurde, wird der Situation in den L\u00e4ndern des Westbalkans und jenen, die daraus Profit schlagen, wenig Beachtung geschenkt. Mit anderen Worten: Die EU hat im Austausch f\u00fcr die Wahrung des Scheins einer sicheren Au\u00dfengrenze indirekt die Entwicklung einer Krise an der EU-Grenze zugelassen. Da auch die Anzahl der gestellten Asylantr\u00e4ge in den L\u00e4ndern der Europ\u00e4ischen Union erheblich niedriger ist als in 2015 und 2016, gibt es zurzeit keinen politischen Willen und kein Interesse dieses Problem zu l\u00f6sen. Die EU und ihre Mitgliedsstaaten sind einfach \u201czu besch\u00e4ftigt\u201d mit anderen Angelegenheiten, wie z.B. den bevorstehenden Wahlen des Europ\u00e4ischen Parlaments. Nach wie vor ist die Migrationskrise ein sehr beliebtes Thema in vielen Zusammenh\u00e4ngen \u2013 nur nicht im Hinblick auf eine nachhaltige Zusammenarbeit, die sich auf gemeinsame Interessen zwischen den West-, Ost- und S\u00fcdosteurop\u00e4ischen L\u00e4ndern st\u00fctzen k\u00f6nnte.<\/p>\t\t\t<\/div>\n\t\t<\/div>\n\t<\/div>\n\n\n\n\n<\/ol>\n\t\t\t<\/div>\n\t\t<\/div>\n\t<\/div>\n\n\n
Dieser Text ist urheberrechtlich gesch\u00fctzt. \u00a9 Michal V\u00edt. Bei Interesse an Wiederver\u00f6ffentlichung bitten wir um Kontaktaufnahme mit der Redaktion<\/a>.
Urheberrechtliche Angaben zu Bildern, Grafiken und Videos sind direkt bei den Abbildungen vermerkt. Titelbild: Im Bira Aufnahmezentrum in Biha\u0107 sind etwa 2000 Migranten untergebracht. T\u00e4glich werden drei Mahlzeiten, Decken, Hygiene und andere Notwendigkeiten zur Verf\u00fcgung gestellt. Foto: \u00a9 EXPA \/ Pixsell \/ picturedesk.com \/ Armin Durgut<\/em><\/p>\t\t\t<\/div>\n\t\t<\/div>\n\t<\/div>\n","protected":false},"excerpt":{"rendered":"