{"id":3588,"date":"2019-05-07T00:00:00","date_gmt":"2019-05-07T00:00:00","guid":{"rendered":"https:\/\/erste-foundation.byinfinum.co\/der-weg-in-die-unfreiheit\/"},"modified":"2021-07-01T05:45:05","modified_gmt":"2021-07-01T05:45:05","slug":"der-weg-in-die-unfreiheit","status":"publish","type":"post","link":"https:\/\/tippingpoint.net\/de\/der-weg-in-die-unfreiheit\/","title":{"rendered":"Der Weg in die Unfreiheit"},"content":{"rendered":"
\n\tMit dem Ende des Kalten Krieges hatten die liberalen Demokratien des Westens gesiegt. Von nun an w\u00fcrde die Menschheit eine friedvolle, globalisierte Zukunft erwarten. Doch das war ein Irrtum. Seit Putin seine Macht in Russland etabliert hat, rollt eine Welle des Autoritarismus von Osten nach Westen, die Europa erfasst hat und mit Donald Trump auch im Wei\u00dfen Haus angekommen ist. Der nachfolgende Text ist ein Abdruck des aktuellen Buches Der Weg in die Unfreiheit – Russland, Europa, Amerika<\/em> des Historikers Timothy Snyder.<\/strong><\/p>\t\t\t<\/div>\n\t\t<\/div>\n\t<\/div>\n\n\n \n\tUnausweichlichkeit und Ewigkeit verwandeln Fakten in Narrative. Wer sich von der Unausweichlichkeit getragen f\u00fchlt, sieht in jeder Tatsache ein kurzzeitiges Ph\u00e4nomen, das die Erz\u00e4hlung vom Fortschritt nicht grunds\u00e4tzlich ver\u00e4ndert. Wer zur Ewigkeit \u00fcberwechselt, definiert jedes neue Ereignis als ein weiteres Moment einer zeitlosen Bedrohung. Beide geben sich den Anschein von Geschichte, beide schaffen Geschichte ab.<\/p>\t\t\t<\/div>\n\t\t<\/div>\n\t<\/div>\n\n\n \n\tUnausweichlichkeitspolitiker lehren, dass die Spezifika der Vergangenheit irrelevant seien, da alles, was geschieht, nur Wasser auf die M\u00fchlen des Fortschritts ist. Ewigkeitspolitiker springen von einem Zeitpunkt zum n\u00e4chsten, \u00fcber Jahrzehnte oder auch Jahrhunderte, um einen Mythos von Unschuld und Gefahr aufzubauen. Sie imaginieren Zyklen der Bedrohung in der Vergangenheit. Sie erschaffen ein imagin\u00e4res Muster, das sie in der Gegenwart Realit\u00e4t werden lassen, indem sie k\u00fcnstliche Krisen und t\u00e4gliche Aufregergeschichten produzieren.<\/p>\t\t\t<\/div>\n\t\t<\/div>\n\t<\/div>\n\n\n \n\tUnausweichlichkeit und Ewigkeit haben ihre je eigenen Propagandastile. Politiker der Unausweichlichkeit versch\u00f6nern Fakten zu einem Kokon des Wohlgef\u00fchls. Politiker der Ewigkeit unterdr\u00fccken Fakten, um auszublenden, dass Menschen in anderen L\u00e4ndern freier und wohlhabender sind, und sie unterdr\u00fccken die Idee, dass die Konzeption von Reformen auf Wissen basieren k\u00f6nnte. In den 2010er Jahren war vieles von dem, was geschah, im Rahmen einer politischen Fiktion inszeniert worden. Es waren spektakul\u00e4re Geschichten, die Aufmerksamkeit beanspruchten und auch den Raum, den man eigentlich gebraucht h\u00e4tte, um nachzudenken. Aber wie auch immer die Propaganda auf die Zeitgenossen wirken mag, das endg\u00fcltige Urteil der Geschichte ist damit nicht gesprochen. Es besteht eine Differenz zwischen der Erinnerung, den Eindr\u00fccken, die auf uns einwirken, und der Geschichte, den Zusammenh\u00e4ngen, die wir herausarbeiten \u2013 vorausgesetzt, der Wille dazu ist da.<\/p>\t\t\t<\/div>\n\t\t<\/div>\n\t<\/div>\n\n\n \n\tIn diesem Buch wird der Versuch unternommen, die Gegenwart f\u00fcr die Geschichte und damit die Geschichte f\u00fcr die Politik zur\u00fcckzugewinnen. Es geht darum, eine Reihe von miteinander in Beziehung stehenden Geschehnissen unserer gegenw\u00e4rtigen weltgeschichtlichen Lage zu verstehen, wobei die Spanne von Russland bis zu den Vereinigten Staaten reicht, und das zu einer Zeit, in der die Faktizit\u00e4t als solche infrage gestellt wird. Russlands Invasion der Ukraine im Jahre 2014 war ein Test f\u00fcr den Realit\u00e4tssinn der Europ\u00e4ischen Union und der Vereinigten Staaten. Viele Europ\u00e4er und Amerikaner fanden es einfacher, die Propagandaphantome der Russen zu akzeptieren, als die Rechtsordnung zu verteidigen. Europ\u00e4er und Amerikaner vergeudeten viel Zeit mit der Frage, ob eine Invasion stattgefunden habe, ob die Ukraine ein Land sei und ob sie nicht irgendwie und \u00fcberhaupt \u00fcberfallen werden musste. Hier wurde eine umfassende Schwachstelle sichtbar, die Russland bald in Europa und in den Vereinigten Staaten ausnutzte.<\/p>\t\t\t<\/div>\n\t\t<\/div>\n\t<\/div>\n\n\n \n\tGleichheit oder Oligarchie, Individualismus oder Unfreiheit, Wahrheit oder Fake News – die Welt, wie wir sie kannten, steht am Scheideweg. Viel hat der Westen selbst dazu beigetragen. Aber er hat auch m\u00e4chtige Feinde, die seine Institutionen mit allen Mitteln untergraben wollen. Timothy Snyder verfasste die Chronik einer \u00fcber uns hereinbrechenden politischen Katastrophe \u2013 der Aufstieg autorit\u00e4rer Regime in Russland, Europa und den USA. Er schildert die be\u00e4ngstigenden Kontakte zwischen russischen Oligarchen und Donald Trump, und er warnt uns vor den Konsequenzen: Wenn wir nicht endlich aufwachen, dann wird die freie Welt vielleicht schon bald Vergangenheit sein. \n\tGeschichtsschreibung entstand als wissenschaftliche Disziplin in der Konfrontation mit der Kriegspropaganda. In seinem Buch \u00fcber den Peloponnesischen Krieg<\/em>, einem der fr\u00fchesten Werke der europ\u00e4ischen Geschichtsschreibung, unterschied Thukydides genau zwischen den Berichten der Befehlshaber und den tats\u00e4chlichen Gr\u00fcnden f\u00fcr ihre Entscheidungen. Heutzutage wird der investigative Journalismus immer unersetzlicher, weil wachsende Ungleichheit die politische Fiktion bef\u00f6rdert. Seine Renaissance erlebte er w\u00e4hrend der russischen Invasion der Ukraine, als mutige Reporter aus der Gefahrenzone berichteten. In Russland und in der Ukraine waren journalistische Initiativen zu den Themen Kleptokratie und Korruption entstanden, dann berichteten Journalisten, die Erfahrungen auf diesen Feldern gesammelt hatten, \u00fcber den Krieg. \n\tIn den neunziger Jahren des 20. Jahrhunderts und in der ersten Dekade des 21. ging der Einfluss von West nach Ost: mit der \u00dcbernahme von \u00f6konomischen und politischen Vorbildern, der Verbreitung der englischen Sprache, der Erweiterung der Europ\u00e4ischen Union und der NATO. Inzwischen haben deregulierte Sph\u00e4ren des amerikanischen und europ\u00e4ischen Kapitalismus wohlhabende Russen in ein Reich gelockt, in dem es keine Ost-West-Geographie gibt, sondern Offshore-Bankkonten, Briefkastenfirmen und anonyme Deals, bei denen das Verm\u00f6gen gewaschen wird, das dem russischen Volk gestohlen wurde. Auch aus diesem Grund driftete der Einfluss in den 2010er Jahren von Ost nach West, als die Ausnahme des Offshore zur Regel und die russische politische Fiktion au\u00dferhalb von Russland wirkm\u00e4chtig wurde. Im Peloponnesischen Krieg definierte Thukydides \u201eOligarchie\u201c als \u201eHerrschaft von Wenigen\u201c im Gegensatz zur \u201eDemokratie\u201c. Aristoteles verstand unter \u201eOligarchie\u201c die \u201eHerrschaft der Wenigen, die reich sind\u201c. In dieser Bedeutungsvariante erlebte das Wort Oligarchie in den 1990er Jahren in der russischen Sprache seine Renaissance \u2013 und die Erkl\u00e4rung von der \u201eHerrschaft der wenigen, die reich sind\u201c, the rule of the wealthy few<\/em>, in den 2010er Jahren dann, aus gutem Grund, im Englischen.<\/p>\t\t\t<\/div>\n\t\t<\/div>\n\t<\/div>\n\n\n \n\tBegriffe und Verfahrensweisen wanderten vom Osten in den Westen. Zum Beispiel das Wort Fake<\/em> wie in Fake News<\/em>: Das klingt wie eine amerikanische Erfindung, und Donald Trump reklamiert sie f\u00fcr sich, aber der Ausdruck wurde in Russland und in der Ukraine schon lange benutzt, bevor er seinen Siegeszug in den Vereinigten Staaten antrat. Er bedeutet, dass sich ein fiktionaler Text als journalistischer ausgibt, und zwar sowohl um Verwirrung \u00fcber ein bestimmtes Geschehen zu stiften, als auch um den Journalismus als solchen zu diskreditieren. Politiker der Ewigkeit verbreiten zun\u00e4chst selbst Fake News<\/em>, dann behaupten sie, alle Nachrichten seien Fake<\/em>, und schlie\u00dflich, dass allein ihre eigenen Spektakel wahr seien. Die russische Kampagne, die die internationale \u00d6ffentlichkeit mit Fiktionen \u00fcberschwemmen sollte, begann 2014 in der Ukraine und griff 2015 auf die Vereinigten Staaten \u00fcber, wo sie 2016 dazu beitrug, den Pr\u00e4sidenten zu w\u00e4hlen. Die Technik war \u00fcberall dieselbe, allerdings wurde sie mit der Zeit immer raffinierter.<\/p>\t\t\t<\/div>\n\t\t<\/div>\n\t<\/div>\n\n\n \n\tRussland war in den 2010er Jahren ein kleptokratisches Regime, das entschlossen war, die Politik der Ewigkeit zu exportieren: Faktizit\u00e4t zu vernichten, Ungleichheit zu zementieren und \u00e4hnliche Tendenzen in Europa und in den Vereinigten Staaten zu beschleunigen. Das wird gut an der Ukraine sichtbar, wo Russland einen regelrechten Krieg f\u00fchrte, w\u00e4hrend es die Kampagnen zur Zerr\u00fcttung der Europ\u00e4ischen Union und der Vereinigten Staaten verst\u00e4rkte. Der Berater des ersten pro-russischen amerikanischen Pr\u00e4sidentschaftskandidaten war der Berater des letzten pro-russischen Pr\u00e4sidenten der Ukraine gewesen. Russische Taktiken, die in der Ukraine scheiterten, waren nun in den Vereinigten Staaten erfolgreich. Russische und ukrainische Oligarchen versteckten ihr Geld so, dass der Aufstieg eines amerikanischen Pr\u00e4sidentschaftskandidaten davon profitierte. Das alles ist eine einzige, zusammengeh\u00f6rende Geschichte, die Geschichte unserer Gegenwart und unserer Entscheidungen.<\/p>\t\t\t<\/div>\n\t\t<\/div>\n\t<\/div>\n\n\n \n\tDieser Text ist ein Abdruck aus “Timothy Snyder: Der Weg in die Unfreiheit” und wurde ebenfalls in der IWMpost Nr. 122<\/a> (Herbst\/Winter 2018) publiziert. \n\t<\/p>\t\t\t<\/div>\n\t\t<\/div>\n\t<\/div>\n\n\n \n\tBei der Er\u00f6ffnung des Vienna Humanities Festival 2018 – im Rahmen einer Wiener Vorlesung – hat Timothy Snyder<\/a> \u00fcber sein aktuelles Buch gesprochen und anschlie\u00dfend mit der Rektorin des IWM, Shalini Randeria<\/a>, dar\u00fcber diskutiert, welche M\u00f6glichkeiten es gibt, in dieser Zeit der Ungewissheit voranzukommen. Moderiert hat Lisa Nimmervoll (Der Standard<\/a>).<\/p>\t\t\t<\/div>\n\t\t<\/div>\n\t<\/div>\n\n\n\n\tChronik einer politschen Katastrophe<\/h2>\n\t
Dieser Text ist ein Abdruck aus Timothy Snyder: Der Weg in die Unfreiheit – Russland, Europa, Amerika<\/a>. \u00dcbersetzt von Ulla H\u00f6ber und Werner Roller. \u00a9 Verlag C.H.Beck, M\u00fcnchen 2018.<\/em><\/p>\n\t<\/div>\n<\/div>\n\t<\/div>\n\n<\/div>\n\n\n\n
Was in Russland bereits eingetreten ist, geschieht vielleicht auch in Amerika und Europa: die Etablierung massiver Ungleichheit, die Ersetzung von Politik durch Propaganda, der \u00dcbergang von der Politik der Unausweichlichkeit zur Politik der Ewigkeit. Das russische F\u00fchrungspersonal konnte Amerika und Europa in die Ewigkeit einladen, weil Russland zuerst dort angekommen war. Man beobachtete bei Amerikanern und Europ\u00e4ern die Schw\u00e4chen, die man im eigenen Land bereits erkannt und ausgebeutet hatte.
Auf die Ereignisse der 2010er Jahre waren viele Amerikaner und Europ\u00e4er nicht vorbereitet: das Aufkommen antidemokratischer Politik, die Abwendung Russlands von Europa und die Invasion der Ukraine, das Brexit-Referendum, die Wahl Trumps. Die Amerikaner neigen bei \u00dcberraschungen zu zwei Reaktionen. Entweder reden sie sich ein, das unerwartete Ereignis gebe es in Wirklichkeit gar nicht, oder sie behaupten, es sei so vollkommen neu, dass es sich dem historischen Verst\u00e4ndnis entziehe. Entweder wird alles irgendwie gut, oder es ist so schrecklich, dass man nichts dagegen unternehmen kann. Die erste Reaktion ist der Verteidigungsmechanismus der Politik der Unausweichlichkeit. Die zweite kommt mit dem \u00e4chzenden Ger\u00e4usch, das kurz vor dem Zusammenbruch der Unausweichlichkeit entsteht, wenn sie den Weg f\u00fcr die Ewigkeit freigibt. Die Politik der Unausweichlichkeit erodiert das Verantwortungsbewusstsein der B\u00fcrger, und falls eine ernste Herausforderung kommt, mutiert sie zur Politik der Ewigkeit. Die Amerikaner zeigten beide Reaktionen, als Russlands Wunschkandidat Pr\u00e4sident der Vereinigten Staaten wurde.<\/p>\t<\/div>\n\n<\/div>\n\n<\/div>\n\t\t\t<\/div>\n\t\t<\/div>\n\t<\/div>\n\n\n
\u00dcbersetzt von Ulla H\u00f6ber und Werner Roller.<\/em>
Dieser Text ist urheberrechtlich gesch\u00fctzt. \u00a9 Timothy Snyder \/ C.H.Beck.<\/em>
Titelbild: Der russische Pr\u00e4sident Vladimir Putin bei den Gedenkfeierlichkeiten am 16. Oktober 2014 in Belgrad anl\u00e4sslich der Befreiung der Stadt durch die Rote Armee und die jugoslawischen Partisanen 1944. Foto: \u00a9 dicus63 \/ iStock<\/em><\/p>\t\t\t<\/div>\n\t\t<\/div>\n\t<\/div>\n\n\n\n\n<\/ol>\n\t\t\t<\/div>\n\t\t<\/div>\n\t<\/div>\n\n\n