{"id":3569,"date":"2018-12-26T00:00:00","date_gmt":"2018-12-26T00:00:00","guid":{"rendered":"https:\/\/erste-foundation.byinfinum.co\/der-bodenstaendige\/"},"modified":"2022-03-31T18:14:06","modified_gmt":"2022-03-31T18:14:06","slug":"der-bodenstaendige","status":"publish","type":"post","link":"https:\/\/tippingpoint.net\/de\/der-bodenstaendige\/","title":{"rendered":"Der Bodenst\u00e4ndige"},"content":{"rendered":"
\n\tKein Land in der EU z\u00e4hlt mehr Bauern als Rum\u00e4nien, nirgends sind die H\u00f6fe kleiner. Der Bauer Cornel Lascu versucht, nicht aufzugeben. Seine Wurzeln, die legt man nicht ab, sagt er.<\/strong><\/p>\t\t\t<\/div>\n\t\t<\/div>\n\t<\/div>\n\n\n \n\tVerschnaufen, das geht eigentlich nur beim Heiligen Nikolaus. Wie jeden Sonntagvormittag sitzt der Bauer Cornel Lascu vorne rechts im M\u00e4nnerbereich der Kirche auf einem Holzstuhl mit geschwungener R\u00fcckenlehne. So oft hat er hier schon Platz genommen, dass der Lack auf der Sitzfl\u00e4che abbl\u00e4ttert. W\u00e4hrend im Altarraum vor ihm der Priester mit sonorer Stimme betet, haben die zahlreichen Gottesdienstbesucher im Hauptschiff das \u201eHerr, Erbarme Dich unser\u201c angestimmt. Es werfen sich einige der Frauen im Weihrauchnebel auf den Boden und stumm mahnen die goldenen Ikonen von den W\u00e4nden herab. Cornel Lascu aber, die Wollm\u00fctze in den Scho\u00df gelegt, atmet tief durch. Seit drei Stunden ist er schon da, noch eine Stunde wird die orthodoxe Messe dauern. Dann wird der bullige Mann mit dem ergrauten Haar das Kirchenschiff verlassen. Er wird den Kirchenh\u00fcgel hinuntergehen, \u00fcber die Br\u00fccke entlang der Schotterstra\u00dfe nach Hause. Immer dieselbe Strecke, rund einen Kilometer lang, ohne Ampel, ohne Zebrastreifen, ohne Trottoir bis zum Haus, das anstatt einer Adresse nur eine Nummer tr\u00e4gt: 239.<\/p>\t\t\t<\/div>\n\t\t<\/div>\n\t<\/div>\n\n\n \n\tIn dem zweist\u00f6ckigen Geb\u00e4ude, die Giebelseite traditionell zur Stra\u00dfe gewandt, haben schon seine Gro\u00dfeltern gewohnt. Hier ist Lascu aufgewachsen und hat gemeinsam mit seiner Frau eine Tochter und einen Sohn gro\u00dfgezogen. Im Stall wird auch am Wochenende das Vieh vor den leeren Krippen warten. Doch jetzt, als die Gemeinde zum letzten \u201eHerr, Erbarme Dich\u201c ansetzt, als die K\u00f6pfe der daniederknienden Frauen im Steinboden zu verschwinden scheinen, als der Weihrauch bis in die Stirnh\u00f6hlen zieht, h\u00e4lt Lascu inne. Diese Momente geh\u00f6ren ihm. Einmal war er mit den Kindern im S\u00fcden: \u201eDamit sie das Meer sehen.\u201c Doch das ist viele Jahre her. Seine Auszeit vom Alltag beginnt mit den goldenen Heiligenbildern und endet, wenn ihm der silberbestickte Priester die Kommunion reicht. Und nicht nur ihm geht es so.<\/p>\t\t\t<\/div>\n\t\t<\/div>\n\t<\/div>\n\n\n \n\tDie orthodoxe Kirche in Vurp\u0103r ist ein wichtiger Treffpunkt f\u00fcr die Menschen der Gemeinde. Foto: Mihai Stoica<\/p>\t<\/figcaption>\n<\/figure>\n\t\t\t<\/div>\n\t\t<\/div>\n\t<\/div>\n\n\n \n\tDie Gemeinde Vurp\u0103r in Siebenb\u00fcrgen, Zentralrum\u00e4nien, 30 Kilometer von Hermannstadt entfernt, hat offiziell 2.500 Einwohner. Es sind wohl weniger, wenn man jene wegz\u00e4hlt, die regelm\u00e4\u00dfig f\u00fcr ein paar Monate nach Deutschland, \u00d6sterreich und Frankreich gehen. \u00dcber drei H\u00fcgel f\u00fchrt die einspurige Stra\u00dfe nach Vurp\u0103r, vorbei an Schafsherden, die im senffarbenen Wintergras nach den ersten Trieben suchen, bis zum zweisprachigen Dorfschild neben der Western-Union-Filiale: Vurp\u0103r \/Burgberg steht da. Vor der Revolution haben in Vurp\u0103r Siebenb\u00fcrger Sachsen gelebt, 900 Familien sollen es gewesen sein. Doch sie, deren Vorfahren im 13. Jahrhundert hierherkamen, um in der Pufferzone zwischen West und Ost die Christenheit zu verteidigen, sind auf der Suche nach einem besseren Leben in den 1990er-Jahren in Scharen nach Deutschland ausgewandert. Nur ihre Wehrkirche haben sie dagelassen, deren Turm weiter auf dem h\u00f6chsten H\u00fcgel thront. Seit fast tausend Jahren blickt er auf das Dorf, auf die in Streifen geschnittenen Felder, die beginnen, wo die Gem\u00fcseg\u00e4rten enden, auf die Lebensweise, die die Sachsen, die Rum\u00e4nen und die Minderheit der Roma im Dorf vereint: die Landwirtschaft. <\/p>\t\t\t<\/div>\n\t\t<\/div>\n\t<\/div>\n\n\n \n\tAuf wenigen Hektaren ziehen die Menschen seit jeher Gem\u00fcse, Kohl, Tomaten und Rote R\u00fcben, in Handarbeit melken sie die K\u00fche. Das Gefl\u00fcgel, es rennt frei auf den H\u00f6fen herum. Gesch\u00e4tzt rund ein Drittel der im Land konsumierten Lebensmittel werden von Kleinbauern im Familienbetrieb mit wenig Ger\u00e4tschaft und viel Muskeleinsatz erzeugt und am Handel vorbei vermarktet. Die Ernte des Landes landet nicht unter Plastikh\u00fcllen und Barcodes in den Supermarktregalen, sondern auf den M\u00e4rkten, waghalsig zu Bergen aufget\u00fcrmt, und mit enthusiastischer Stimme beworben. Und in den Armen der Frauen, die in den Ecken eine Handvoll Karotten anbieten, und einen Bund Petersilie dazu. Kein anderes Land der EU z\u00e4hlt mehr Landwirte als Rum\u00e4nien, jeder dritte lebt hier, und nirgendwo sind die H\u00f6fe \u00e4hnlich klein. 95 Prozent der dreieinhalb Millionen rum\u00e4nischen Bauern bewirtschaften weniger als zehn Hektar Fl\u00e4che, der Gro\u00dfteil weniger als f\u00fcnf. Ein deutscher Landwirt k\u00e4me mit zehn Hektar kaum \u00fcber die Runden. In Vurp\u0103r ist man damit Gro\u00dfbauer.<\/p>\t\t\t<\/div>\n\t\t<\/div>\n\t<\/div>\n\n\n \n\tCornel Lascu ist das nicht. Der 46-J\u00e4hrige hat vier Schweine, eine Handvoll H\u00fchner, einige Hektar Felder f\u00fcr das Futtergetreide, seine Frau Daniela k\u00fcmmert sich um das Gem\u00fcsefeld hinter der Scheune. Neben der Scheune, hinter dem Holztor, da aber stehen Lascus Pretiosen, da stehen seine vier \u201eSensibelchen\u201c, da steht, was dem sonst zur\u00fcckhaltenden Mann Stolz und Freude ins Gesicht spiegelt. \u201ePass nur auf. Sie sind schreckhaft\u201c, sagt er noch, bevor er die Holzklinke nach unten dr\u00fcckt und mit beruhigendem \u201eSchhh Schhhh\u201c \u00fcber die T\u00fcrschwelle ins Dunkle tritt. Wuchtige schwarze K\u00f6pfe durch Stricke geb\u00e4ndigt lassen vom Heu ab und drehen sich konsterniert nach dem unerwarteten Besuch um: Es sind Wasserb\u00fcffel mit dunklen Augen und langgezogenen H\u00f6rnern, wie Piratens\u00e4bel nach hinten gezwirbelt, mit gedrungenen R\u00fcmpfen und quadratischen Hufen, ein jedes Tier fast eine Tonne schwer. Kaum ein Bauer tut sich so etwas heute noch an. Der B\u00fcffel tritt, wenn er sich bedroht f\u00fchlt, und er setzt seine H\u00f6rner ein, wenn es sein muss. Doch weil er den Pflug st\u00e4rker als das Pferd zieht, weil er Sachen frisst, die sogar die Schweine verschm\u00e4hen \u2013 Maisst\u00e4ngel etwa \u2013, und weil seine Milch mit acht Prozent doppelt so viel Fett wie jene der Kuh enth\u00e4lt, hat man in der Gegend \u00fcber die Jahrhunderte hinweg an ihm festgehalten. <\/p>\t\t\t<\/div>\n\t\t<\/div>\n\t<\/div>\n\n\n\n\t\n\t<\/div>\t