{"id":3499,"date":"2018-05-30T00:00:00","date_gmt":"2018-05-30T00:00:00","guid":{"rendered":"https:\/\/erste-foundation.byinfinum.co\/ueber-populisten-und-falsche-alternativen\/"},"modified":"2021-08-23T15:47:26","modified_gmt":"2021-08-23T15:47:26","slug":"ueber-populisten-und-falsche-alternativen","status":"publish","type":"post","link":"https:\/\/tippingpoint.net\/de\/ueber-populisten-und-falsche-alternativen\/","title":{"rendered":"\u00dcber Populisten und falsche Alternativen"},"content":{"rendered":"
\n\tMacron oder Le Pen? Wenn man dem Tenor unserer Medien folgt, f\u00e4llt die Wahl nicht schwer. Doch bevor voreilige Schl\u00fcsse gezogen werden, sollte man zuerst genauer hinschauen und die Umst\u00e4nde analysieren. \u00c4hnliche Entwicklungen wie in Frankreich gab es zuvor schon in nahezu allen osteurop\u00e4ischen L\u00e4ndern: Es kam in den letzten Jahren zu beachtlichen Wahlerfolgen der Nationalpopulisten. Was k\u00f6nnen wir also aus den Erfahrungen in Osteuropa lernen?<\/strong><\/p>\t\t\t<\/div>\n\t\t<\/div>\n\t<\/div>\n\n\n \n\tDer Aufstieg der Populisten in Osteuropa<\/strong> \n\tInsofern w\u00e4re es wichtig, sich mit den Gr\u00fcnden der anhaltenden Unzufriedenheit zu besch\u00e4ftigen. Sie steigerte sich zu einer Entfremdung zwischen W\u00e4hlern und Gew\u00e4hlten. In den genannten L\u00e4ndern Osteuropas bestand der allgemeine Grund darin, dass die liberale Demokratie, wie Ivan Krastev es ausdr\u00fcckte, \u201enicht geliefert hat\u201c, was sie versprach.Ivan Krastev: Liberalism\u2019s Failure to Deliver: Journal of Democracy, 2016, Vol.27(1), S. 35-38.<\/sup> Sie versprach nicht nur politische Freiheit, sondern auch ein gutes Leben f\u00fcr all diejenigen, die sich anstrengen. Vor allem Letzteres konnte sie gr\u00f6\u00dftenteils nicht liefern. Die Erwartung eines betr\u00e4chtlichen Teils der Bev\u00f6lkerung in der Krise des \u201eAncien R\u00e9gimes\u201c um 1989 war gewesen, dass man zum Westen aufschlie\u00dfen, dessen Institutionen \u00fcbernehmen und damit auch dessen erfolgreiches gesellschaftliches Modell \u00fcbernehmen k\u00f6nne. Zumindest nach einiger Zeit. Sp\u00e4testens 2008 aber, w\u00e4hrend der Weltfinanzkrise, wurde klar, dass diese Erwartung auf lange Zeit entt\u00e4uscht werden w\u00fcrde. 2017 kritisierte der ehemalige tschechische Ministerpr\u00e4sident Bohuslav Sobotka, dass man auch 25 Jahre nach Beginn der Transformation von einem Lebensniveau wie in den alten EU-L\u00e4ndern weit entfernt sei.So eine Meldung von Radio Prag vom 21.2.2016.<\/sup><\/p>\t\t\t<\/div>\n\t\t<\/div>\n\t<\/div>\n\n\n \n\tDazu kamen andere unangenehme \u00dcberraschungen. Die neue politische Klasse in allen ihren Fraktionen, ob \u201ekonservativ\u201c oder \u201esozialdemokratisch\u201c, hatte sich als wenig sensibel f\u00fcr die N\u00f6te und Interessen der einfachen Leute gezeigt. Viele ihrer Vertreter bereicherten sich pers\u00f6nlich, als die Gelegenheit dazu da war. W\u00e4hrend der Transformation, Zeit der umfassendsten Privatisierung von \u00f6ffentlichem Eigentum in der Geschichte der Neuzeit, bestand dazu offenbar reichlich Gelegenheit.<\/p>\t\t\t<\/div>\n\t\t<\/div>\n\t<\/div>\n\n\n \n\tMan k\u00f6nnte sich nat\u00fcrlich fragen, warum so viele Politiker sich selbst bedienten. Das ist sicher nicht nur eine Charakterfrage, sondern vielf\u00e4ltig bedingt und bed\u00fcrfte weiterer Analyse. Korruption ist ein Ph\u00e4nomen, das sich nur schwer als ein konkretes Delikt untersuchen l\u00e4sst, weil niemand, der beteiligt ist, daran interessiert ist, dass die Wahrheit ans Licht kommt. In \u00d6sterreich gibt es dazu auch prominente Erfahrungen: Es gilt die Unschuldsvermutung! Wichtiger als die Suche nach den individuellen Gr\u00fcnden ist bei einem Massenph\u00e4nomen allerdings die Frage nach der Ursache der Gelegenheiten. Warum war eine sich selbst bedienende politische Kaste in diesem Massenumfang m\u00f6glich? Hier hat institutionelle Kontrolle versagt. In vielen L\u00e4ndern war die Unabh\u00e4ngigkeit der Justiz noch unvollst\u00e4ndig. Der Parteienpluralismus funktionierte auch nicht gut, weil es so etwas wie ein Kartell der Gewinner der Transformation gab. Protest als Gegengewicht gegen eine abgehobene Elite war anfangs schwach, weil alle damit besch\u00e4ftigt waren, sich in die radikal sich ver\u00e4ndernden Bedingungen des Alltags einzufinden.<\/p>\t\t\t<\/div>\n\t\t<\/div>\n\t<\/div>\n\n\n \n\tAber es gab auch in Osteuropa einen Zeitgeist, der dem nicht entgegenstand. Dieser Zeitgeist feuerte alle \u2013 auch jenseits der politischen Elite \u2013 an, sich zu bereichern. Geld war zum einzigen Ma\u00dfstab geworden, an dem Leistung und Ansehen gemessen wurde. In der Wirtschaft war schneller Reichtum m\u00f6glich, warum also auch nicht in der Politik? Im Wettbewerb zwischen dem kapitalistischen Westen und dem sozialistischen Osten hatte der Westen gewonnen, und die Wertsch\u00e4tzung des Geldes als zentraler Ma\u00dfstab von pers\u00f6nlichem Erfolg kam mit diesem Sieg.<\/p>\t\t\t<\/div>\n\t\t<\/div>\n\t<\/div>\n\n\n \n\tPopulismus als Schmarotzen an Repr\u00e4sentationsdefiziten<\/strong> \n\tPolen ist \u00fcberhaupt ein interessantes Beispiel, um auf unsere anfangs gestellte Frage zu antworten. Wie soll man mit der Alternativlosigkeit der Politik trotz vorhandener Alternativen, von denen keine L\u00f6sung der ernsten Probleme zu erwarten ist, umgehen? Die problematische Alternative zwischen einer neoliberalen und einer nationalpopulistischen Politik trat in Polen ab 2005 in Form des Wettbewerbs zwischen der B\u00fcrgerplattform (PO) und der Partei \u201eRecht und Gerechtigkeit\u201c (PiS) auf. Die eine Partei wird von Gruppen der Gesellschaft getragen, die mit dem neuen System und seinen Koordinaten am besten zurechtkommen, den Gewinnern der Transformation hin zu einer fahrl\u00e4ssig unkontrollierten, frei genannten, Wirtschaft und einer Politik, die die Solidarit\u00e4t untereinander erschwert. Die andere Partei wird unterst\u00fctzt durch die Verlierer, die sich genau mit dieser gewandelten gesellschaftlichen Konstellation schwer tun und in einer nationalen Ideologie und einem starken, wohl auch autorit\u00e4ren, Staat und seinem F\u00fchrer Schutz suchen.<\/p>\t\t\t<\/div>\n\t\t<\/div>\n\t<\/div>\n\n\n \n\tDas politische System, die liberale Demokratie, die 1989 gesiegt hatte, basierte auf Gruppen von Politikern, die die Interessen und Hoffnungen, auch die \u00c4ngste, von Teilen der W\u00e4hlerschaft repr\u00e4sentieren. Es funktioniert nur solange, wie sich jene W\u00e4hlerschichten auch durch sie vertreten f\u00fchlen. Wenn es zur beschriebenen Entfremdung kommt, dann schl\u00e4gt die Stunde der Populisten, die jene Gebrechen anprangern, um selbst Einfluss zu gewinnen. Aber die weder die Absicht noch die Mittel haben, jene Funktionsfehler zu \u00fcberwinden.<\/p>\t\t\t<\/div>\n\t\t<\/div>\n\t<\/div>\n\n\n \n\tLernen aus Osteuropa?<\/strong> \n\tIch schreibe bewusst, bezogen auf den Westen Europas, von einer noch nicht vollendeten Bewegung. In Frankreich wird wahrscheinlich Macron gew\u00e4hlt werden, Le Pen verhindert. Aber der Front National wird nicht verschwinden. Die Populisten bleiben eine Macht, weil und solange die repr\u00e4sentative Demokratie f\u00fcr die Sorgen und N\u00f6te einer gro\u00dfen Gesellschaftsschicht blind bleibt. Vielleicht aber gelingt es irgendwo im Westen Europas, was in der traumatischen Transformation Osteuropas nach 1989 misslang: die Neuerfindung einer partizipativ demokratischen und solidarischen Politik.<\/p>\t\t\t<\/div>\n\t\t<\/div>\n\t<\/div>\n\n\n \n\tErstmals publiziert am 6. Mai 2017 im Eastblog<\/a> (Blog der Forschungsgruppe Osteuropa am Institut f\u00fcr Politikwissenschaft der Universit\u00e4t Wien) und am 9. Mai 2017 auf derstandard.at<\/a>.<\/em> Dieter Segert \u00fcber Lehren aus Osteuropa.<\/p>\n","protected":false},"author":1,"featured_media":1178,"comment_status":"closed","ping_status":"closed","sticky":false,"template":"","format":"standard","meta":{"footnotes":""},"categories":[433,268],"tags":[367,266,358,369,312],"formats":[],"acf":[],"_links":{"self":[{"href":"https:\/\/tippingpoint.net\/de\/wp-json\/wp\/v2\/posts\/3499"}],"collection":[{"href":"https:\/\/tippingpoint.net\/de\/wp-json\/wp\/v2\/posts"}],"about":[{"href":"https:\/\/tippingpoint.net\/de\/wp-json\/wp\/v2\/types\/post"}],"author":[{"embeddable":true,"href":"https:\/\/tippingpoint.net\/de\/wp-json\/wp\/v2\/users\/1"}],"replies":[{"embeddable":true,"href":"https:\/\/tippingpoint.net\/de\/wp-json\/wp\/v2\/comments?post=3499"}],"version-history":[{"count":5,"href":"https:\/\/tippingpoint.net\/de\/wp-json\/wp\/v2\/posts\/3499\/revisions"}],"predecessor-version":[{"id":5664,"href":"https:\/\/tippingpoint.net\/de\/wp-json\/wp\/v2\/posts\/3499\/revisions\/5664"}],"wp:featuredmedia":[{"embeddable":true,"href":"https:\/\/tippingpoint.net\/de\/wp-json\/wp\/v2\/media\/1178"}],"wp:attachment":[{"href":"https:\/\/tippingpoint.net\/de\/wp-json\/wp\/v2\/media?parent=3499"}],"wp:term":[{"taxonomy":"category","embeddable":true,"href":"https:\/\/tippingpoint.net\/de\/wp-json\/wp\/v2\/categories?post=3499"},{"taxonomy":"post_tag","embeddable":true,"href":"https:\/\/tippingpoint.net\/de\/wp-json\/wp\/v2\/tags?post=3499"},{"taxonomy":"format","embeddable":true,"href":"https:\/\/tippingpoint.net\/de\/wp-json\/wp\/v2\/formats?post=3499"}],"curies":[{"name":"wp","href":"https:\/\/api.w.org\/{rel}","templated":true}]}}
Auch in Osteuropa gab es einen Zeitpunkt, zu dem schien allen klar zu sein, wen man w\u00e4hlen sollte. In den Neunzigerjahren gab es scheinbar nur eine Antwort: die Opposition. Die Regierung hatte vier Jahre Zeit und es gab gen\u00fcgend Grund zu klagen. Also warum nicht der anderen Seite des politischen Spektrums eine Chance geben? Und so schaukelte es sich von den \u201eKonservativen\u201c zu den \u201eSozialdemokraten\u201c und zur\u00fcck. In Ungarn war es 1990 das \u201eMDF\u201c (konservativ), 1994 die MSZP (sozialdemokratisch), 1998 Fidesz (konservativ). In Polen sah es so aus: 1991 die Parteien der Solidarno\u015b\u0107 (konservativ), 1993 regierten SLD und PSL (sozialdemokratisch\/Bauernpartei), 1997 wieder die Solidarno\u015b\u0107, 2001 die SLD. Das k\u00f6nnte man fortsetzen. Das Problem dieser Regierungsabl\u00f6sung nach jeder Wahl war, dass trotz Regierungswechsel die Unzufriedenheit der Bev\u00f6lkerung anstieg. Dann kam die Stunde der Nationalpopulisten.<\/p>\t\t\t<\/div>\n\t\t<\/div>\n\t<\/div>\n\n\n
Mit der zunehmenden Unzufriedenheit der Bev\u00f6lkerung mit ihren politischen Klassen schlug die Stunde der Populisten. In Bulgarien war das die Zeit, in der Simeon Sakskoburggotski, der letzte Zar des Landes, aus dem Nichts eine Partei aufbaute und Ministerpr\u00e4sident wurde. In Ungarn hatte der ehemalige liberale Studentenf\u00fchrer Orb\u00e1n erkannt, dass es eine national-konservative L\u00fccke im Parteiensystem gab und seine Partei erfolgreich in diese Ecke des Parteienfeldes bewegt. In der Slowakei schuf ein begabter Populist die Partei Smer, die er mit sozialdemokratischen Symbolen schm\u00fcckte, aber mal links und mal rechts auf Stimmenfang ging. In Tschechien blieb das etablierte Parteiensystem der Transformationsperiode etwas l\u00e4nger stabil, bis dann 2010 der Bruch stattfand. Auch hier bildeten sich populistische Akteure; zuerst trat ein Journalist mit einem Unternehmer im Hintergrund an, dann kam ein anderer Unternehmer und gr\u00fcndete ANO. In Polen entstand ein zweipoliges Parteiensystem auf den Tr\u00fcmmern der Solidarno\u015b\u0107.<\/p>\t\t\t<\/div>\n\t\t<\/div>\n\t<\/div>\n\n\n
In Osteuropa hat sich ein solches funktionierendes Repr\u00e4sentationssystem, das im Westen noch durch den sozialen Ausgleich erg\u00e4nzt wurde, nie wirklich durchgesetzt. Hier wurden, getragen vom Zeitgeist der 1980er-Jahre, nur seine Defizite voll durchgesetzt. Im Osten gibt es heute regierende nationalpopulistische Parteien (in Polen und Ungarn), Unternehmer, die selbst Politik betreiben \u2013 mitunter als Oligarchen bezeichnet \u2013, und Unternehmerparteien (Tschechien, Ukraine) sowie rassistische Parteien im Parlament (Bulgarien, Ungarn, Slowakei). Das gibt es im Westen noch nicht oder doch in deutlich schw\u00e4cherem Ausma\u00df.<\/p>\t\t\t<\/div>\n\t\t<\/div>\n\t<\/div>\n\n\n\n\n<\/ol>\n\t\t\t<\/div>\n\t\t<\/div>\n\t<\/div>\n\n\n
Dieser Text ist urheberrechtlich gesch\u00fctzt. \u00a9 Dieter Segert. Bei Interesse an Wiederver\u00f6ffentlichung bitten wir um Kontaktaufnahme mit der Redaktion<\/a>.
Urheberrechtliche Angaben zu Bildern, Grafiken und Videos sind direkt bei den Abbildungen vermerkt. Titelbild: Wahlplakat von FIDESZ, der Partei des ungarischen Premierministers Viktor Orb\u00e1n, w\u00e4hrend des Wahlkampfs zur Parlamentswahl 2018. Er beschuldigt die Opposition mit dem ungarischen Milliad\u00e4r George Soros befreundet zu sein. Foto: \u00a9 iStock\/BalkansCat.<\/em><\/p>\t\t\t<\/div>\n\t\t<\/div>\n\t<\/div>\n","protected":false},"excerpt":{"rendered":"