{"id":3417,"date":"2017-11-17T00:00:00","date_gmt":"2017-11-17T00:00:00","guid":{"rendered":"https:\/\/erste-foundation.byinfinum.co\/am-sonntag-ins-idiot-wasserspuelung-in-rumaenien\/"},"modified":"2022-03-30T16:18:25","modified_gmt":"2022-03-30T16:18:25","slug":"am-sonntag-ins-idiot-wasserspuelung-in-rumaenien","status":"publish","type":"post","link":"https:\/\/tippingpoint.net\/de\/am-sonntag-ins-idiot-wasserspuelung-in-rumaenien\/","title":{"rendered":"Am Sonntag ins Idiot. Wassersp\u00fclung in Rum\u00e4nien."},"content":{"rendered":"\n\n\t\n\t\t\t
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\n\t\u201eSchwankend wie Rimbauds trunkenes Schiff\u201c. Unter diesem Titel unterhielt sich Martin Pollack am 16. November 2017 mit Mircea C\u0103rt\u0103rescu und Barbi Markovi\u0107 in der Reihe GRENZG\u00c4NGER\/GRENZDENKER<\/em> im Wiener Kasino am Schwarzenberg.<\/strong>

Zuvor lasen die Burgschauspieler Philipp Hau\u00df und Marie-Luise Stockinger aus dem Roman\u00a0Ausgehen<\/em> von Barbi Markovi\u0107 und aus Mircea C\u0103rt\u0103rescus Buch Die sch\u00f6nen Fremden<\/em>. F\u00fcr alle, die an diesem Abend nicht dabei sein konnten, ver\u00f6ffentlichen wir an dieser Stelle die von Rita Czapka erstellte Lesefassung der Ausz\u00fcge aus beiden Werken.

Hier geht’s au\u00dferdem zum Interview<\/a> von Florian Hirsch mit Barbi Markovi\u0107.<\/p>\t\t\t<\/div>\n\t\t<\/div>\n\t<\/div>\n\n\n\n\n\t\n\t\t\t

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\n\t Barbi Markovi\u0107 Ausgehen Mircea C\u04d1rt\u04d1rescu Die sch\u00f6nen Fremden NOVEMBER 2017<\/p>

\n\t\u2014

GRENZG\u00c4NGER \/ GRENZDENKER<\/strong>
Barbi Markovi\u0107
Ausgehen
Mircea C\u04d1rt\u04d1rescu
Die sch\u00f6nen Fremden
NOVEMBER 2017<\/blockquote><\/p>\t\t\t<\/div>\n\t\t<\/div>\n\t<\/div>\n\n\n\n\n\t\n\t\t\t
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Barbi Markovi\u0107: Ausgehen<\/strong>
(nach Thomas Bernhard Gehen)<\/strong>
[rmx]<\/strong><\/blockquote><\/p>\t\t\t<\/div>\n\t\t<\/div>\n\t<\/div>\n\n\n\n\n\t\n\t\t\t
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\n\tBarbi Markovi\u0107. Ausgehen<\/h2>\n\t
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\n\tAus dem Serbischen von Mascha Dabi\u0107. edition\u00a0suhrkamp 2581<\/a>. Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 2009

Lesung Fassung Burgtheater: Rita Czapka<\/p>\n\t<\/div>\n<\/div>\n\t<\/div>\n\n<\/div>\n\n\n\n

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\n\tPhilipp Hau\u00df<\/strong>
Es ist ein st\u00e4ndiges zwischen allen M\u00f6glichkeiten eines menschlichen Kopfes Denken und zwischen allen M\u00f6glichkeiten eines menschlichen Hirns Empfinden und zwischen allen M\u00f6glichkeiten eines menschlichen Charakters Hinundhergezogenwerden.

Marie-Luise Stockinger<\/strong>
Scrach:
Ich beginne:

Es ist ein st\u00e4ndiges zwischen allen Musikstilen Denken, zwischen allen M\u00f6glichkeiten eines menschlichen Hirns Sichzudr\u00f6hnen und zwischen allen M\u00f6glichkeiten eines menschlichen Charakters Sichunterhalten.<\/p>\t<\/div>\n\n<\/div>\n\n<\/div>\n\t\t\t<\/div>\n\t\t<\/div>\n\t<\/div>\n\n\n\n\n\t\n\t\t\t

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\n\tW\u00e4hrend ich, bevor Bojana vom Clubben genug hatte, nur am Samstag mit Milica ausgegangen bin, gehe ich jetzt, nachdem Bojana vom Clubben genug hat, auch am Sonntag mit Milica aus. Weil Bojana am Sonntag mit mir ausgegangen ist, gehst du jetzt, nachdem Bojana am Sonntag nicht mehr mit mir ausgeht, auch am Sonntag mit mir aus, sagt Milica, nachdem Bojana jetzt genug hat und vor der Glotze klebt. Und ohne zu z\u00f6gern, habe ich zu Milica gesagt, gut, gehen wir auch am Sonntag aus, nachdem Bojana die Nase voll hat und vor der Glotze klebt. W\u00e4hrend wir am Samstag immer ins Basement (welches fancy ist) ausgehen, gehen wir am Sonntag ins Idiot (welches trash ist), auffallenderweise gehen wir am Sonntag viel fr\u00fcher aus als am Samstag, wahrscheinlich, denke ich, ist Milica mit Bojana immer fr\u00fcher ausgegangen als mit mir, weil sie am Samstag viel sp\u00e4ter, am Sonntag viel fr\u00fcher ausgeht. Aus Gewohnheit gehe ich, wie du siehst, sagt Milica, am Sonntag viel fr\u00fcher aus als am Samstag, weil ich mit Bojana (also am Sonntag) immer viel fr\u00fcher ausgegangen bin als mit dir (am Samstag). Weil du, nachdem Bojana die Nase voll hat, nicht mehr nur am Samstag mit mir ausgehst, sondern auch am Sonntag, brauche ich meine Gewohnheit, am Sonntag und am Samstag auszugehen, nicht zu \u00e4ndern, sagt Milica, freilich hast du, weil du jetzt am Samstag und am Sonntag mit mir ausgehst, deine Gewohnheit sehr wohl \u00e4ndern m\u00fcssen, und zwar in einer f\u00fcr dich wahrscheinlich unglaublichen Weise, sagt Milica.

Philipp Hau\u00df<\/strong>
Wenn wir die Clubszene anschauen, sagt Milica, wenn wir in die Clubszene hineinschauen, wof\u00fcr es einer Person wie mir von Zeit zu Zeit nicht an Mut fehlt, haben wir vor uns ein riesiges Clubbing, genauer gesagt: ein im Stadtzentrum verstreutes, aber in Wirklichkeit ist das keine Clubszene.

Marie-Luise Stockinger<\/strong>
Die Clubszene ist eine Clubl\u00fcge, behaupte ich, sagt Milica. Stilhaben hei\u00dft doch nichts anderes als mit der Clubszene Schlu\u00df machen und in erster Linie mit sich selbst als einem Teil der Clubszene. Von einem Augenblick auf den anderen nichts mehr akzeptieren hei\u00dft Stil haben, keinen DJ, kein Brand, keine Musikrichtung und naturgem\u00e4\u00df keine Droge, ganz einfach nichts mehr, und sich in dieser tats\u00e4chlich einzigen revolution\u00e4ren Erkenntnis ruinieren. Aber so zu denken f\u00fchrt unweigerlich zu pl\u00f6tzlicher S\u00e4ttigung, sagt Milica, wie wir wissen, und was Bojana mit totaler S\u00e4ttigung hat bezahlen m\u00fcssen. Sie, Milica, glaube nicht daran, da\u00df Bojana sich je wieder von ihrem Platz vor dem Fernseher erheben wird, dazu ist ihre S\u00e4ttigung eine zu elementare, sagt Milica.

Philipp Hau\u00df<\/strong>
Sich immer mehr und mehr im Aufsuchen von sogenannten aufregendsten und ungeheuerlichsten und epochalsten Partys zu schulen, die Rede ist also von solcherart angek\u00fcndigten, in Wahrheit dummen Belgrader Partys, und sich vollkommen mit einer immer noch gr\u00f6\u00dferen Entschlossenheit solchen einzig angebotenen Partys auszuliefern, sei ihre tagt\u00e4gliche Disziplin gewesen, aber immer nur bis zu dem \u00e4u\u00dfersten Punkt vor der vollkommenen S\u00e4ttigung.

Marie-Luise Stockinger<\/strong>
Ausgehen und immer mehr und immer mehr mit immer gr\u00f6\u00dferer Intensit\u00e4t und mit einer immer noch gr\u00f6\u00dferen R\u00fccksichtslosigkeit und mit einem immer noch gr\u00f6\u00dferen geheuchelten Party-Fanatismus, ok, sagt Milica, aber nicht eine Sekunde zu lang ausgehen. Jeden Augenblick k\u00f6nnen wir zu weit gehen in unserem Ausgehen, wir gehen im Ausgehen einfach zu weit, sagt Milica, und machen schlapp. Darauf komme ich jetzt wieder zur\u00fcck, worauf Bojana immer wieder zur\u00fcckgekommen war, sagt Milica, da\u00df es n\u00e4mlich im Belgrader Nachtleben oder besser in dem, was wir als das Belgrader Nachtleben bezeichnen, weil wir es immer als das Belgrader Nachtleben bezeichnet haben, \u00fcberhaupt kein Konzept gibt, analysieren wir, was ein Konzept ist, m\u00fcssen wir sagen, es gibt \u00fcberhaupt kein Konzept, aber das hat Bojana schon analysiert, sagt Milica, da\u00df es n\u00e4mlich, wie Bojana ganz richtig gesagt hat und worauf sie durch fortgesetzte Besch\u00e4ftigung mit diesem unglaublich faszinierenden Gegenstand schlie\u00dflich gekommen ist, kein Konzept, sondern nur ein Pseudo-Konzept gibt.

Philipp Hau\u00df<\/strong>
Was wir haben, ist nichts als Clubbingersatz. Ein Clubbingersatz erm\u00f6glicht unsere Nachtexistenz. Jegliches Ausgehen ist ein Ersatzausgehen, weil es ein wirkliches Ausgehen nicht gibt, weil das Belgrader Nachtleben wirkliches Ausgehen ausschlie\u00dft, weil es wirkliches Ausgehen ausschlie\u00dfen mu\u00df.

Die verbissene Alleskritik ist eine Form des Vergn\u00fcgens, die uns nicht umbringen kann und die uns in erster Linie und unter keinen Umst\u00e4nden je wieder abhandenkommen kann. Aber es ist andererseits ebenso der Fall, da\u00df wir mit unserer Alleskritik h\u00e4ufig ein wenig oder sogar weit unter der Realit\u00e4t bleiben. Was ich tue (und erkenne, da\u00df ich es tue), wenn ich sage, da\u00df die Menschen in Belgrad so fad geworden sind, weil beschissene Partys organisiert werden, das ist nicht real. Ich sage das aber, obwohl ich wei\u00df, da\u00df das nicht real ist, weil es nicht wahr ist, da\u00df die Menschen, die wir in Belgrad treffen, deshalb so fad geworden sind, weil die Partys schlecht sind, obwohl ich wei\u00df, da\u00df die in dem Satz verwendeten Begriffe und folglich auch die in dem Satz verwendeten W\u00f6rter falsch sind und also, wie wir wissen, alles in diesem Satz falsch ist. Wenn wir uns aber nicht an unsere alleskritisierende Einstellung halten, die zugegebenerma\u00dfen extrem und destruktiv ist, b\u00fc\u00dfen wir unser letztes Vergn\u00fcgen ein, sagt Milica.

Marie-Luise Stockinger<\/strong>
Wer eine beschissene Party organisiert, ist sich dessen bewu\u00dft, da\u00df er Langeweile produziert, da\u00df er etwas schafft, das langweilig sein wird, weil es langweilig sein mu\u00df, etwas, das sich durch die Belgrader Clubszene allm\u00e4hlich in eine Katastrophe verwandeln wird, etwas, an dem auch wieder nichts anderes dran ist als die allm\u00e4hlich durch die Belgrader Clubszene entstandene Katastrophe.

Philipp Hau\u00df<\/strong>
Die Struktur des Nachtlebens gr\u00fcndet sich, wie wir wissen, auf einer totalen kollektiven Halluzination, aber das k\u00f6nnen wir nur bemerken, wenn wir ein Gesp\u00fcr daf\u00fcr haben. Vernachl\u00e4ssigen wir den Umstand, da\u00df die Belgrader allesamt Kleinb\u00fcrger sind, sprechen wir von B\u00fcrgern und Clubbern, aber nur von sogenannten Clubbern.

Marie-Luise Stockinger<\/strong>
Hier, siehst du, sagt Milica vor dem Idiot, hier auf den Stufen im Hof, bin ich einmal vor Hunger ohnm\u00e4chtig geworden, weil ich an jenem Tag nichts gegessen hatte, sagt Milica. Ich hatte nichts gegessen und sa\u00df auf den Stufen und sagte, hier, wo ich mich schon einmal vor einigen Jahren \u00fcbergeben mu\u00dfte, im Schnapsrausch, falle ich um, weil ich den ganzen Tag nichts gegessen habe. Auf einmal konnte ich nichts h\u00f6ren, nichts sehen, sagt Milica. Alles ver\u00e4nderte sich auf die schlimmste Weise w\u00e4hrend des Fallens in Ohnmacht auf den Stufen, so wie w\u00e4hrend des fr\u00fcheren Sich\u00fcbergebens auf den Stufen, damit hatte ich nicht gerechnet, sagt Milica. Auf einmal wurde mir klar, da\u00df ich in dieser Stadt nichts mehr zu suchen habe, sagt Milica, aber weil ich schon einmal hier bin und das leider vielleicht f\u00fcr immer, kann ich mich nicht umbringen und aufh\u00f6ren auszugehen und aus dem Haus rauszugehen. Ich habe eingesehen, da\u00df ich in Belgrad nichts mehr zu suchen habe, sagt Milica, und ganz schroff sagt Milica, andererseits, da\u00df ich vielleicht niemals von hier wegkomme und tagelang, wochenlang, monatelang in Belgrad ausgehen werde und daran denken werde, mich doch noch umzubringen, denn es ist ebenso m\u00f6glich, da\u00df ich mich am Ende doch noch umbringen werde, sagt Milica, durchaus m\u00f6glich, nur nicht, bevor und keinesfalls solange ich nicht Wittgenstein kapiert habe, aber danach werde ich mich vielleicht umbringen, werde ich mich umbringen m\u00fcssen, wenn ich aus Belgrad nicht wegkomme.

Immer wieder die gleichen Stra\u00dfen, sagt Milica, und neben den gleichen H\u00e4usern, mit immer den gleichen, schon lange, seit der Kindheit, bekannten Namen, liebgewordenen oder f\u00fcrchterlichen, aber jedenfalls bekannten Namen, immer die Stra\u00dfen, wo man tags\u00fcber nicht einen einzigen sch\u00f6nen Menschen sieht.

Wo sind alle diese sch\u00f6nen Menschen, die ich in (Zeichentrick-)Filmen und Comics sehen kann und die ich auf Belgrader Stra\u00dfen nicht sehen kann? fragte ich mich, sagt Milica. Wochenlang und monatelang habe ich mir diese Frage gestellt.

Philipp Hau\u00df<\/strong>
Wir stellen oft monatelang immer die gleiche Frage, sagt sie, stellen sie uns oder anderen, aber vor allem stellen wir sie uns, und wenn wir uns diese Frage nicht haben beantworten k\u00f6nnen, auch in der l\u00e4ngsten Zeit nicht, auch in Jahren nicht, weil uns die Beantwortung gleich welcher Frage nicht m\u00f6glich ist, sagt Milica, stellen wir eine andere, eine neue Frage, vielleicht aber auch wieder eine Frage, die wir uns schon einmal gestellt haben, und so das ganze Leben lang, bis der Kopf nicht mehr kann.

Marie-Luise Stockinger<\/strong>
Wo sind alle diese Menschen, Cyborgs, Aliens, Mutanten? habe ich mich gefragt und immer mehr und mehr Drogen genommen, und in keinem Zustand hat mich diese Frage in Ruhe gelassen. Gibt es sie etwa nicht? fragte ich mich. Wo sind alle diese superd\u00fcnnen Superhelden, f\u00fcr die ich meine Freunde ohne mit der Wimper zu zucken in die W\u00fcste schicken w\u00fcrde? Wenn ich nur einen einzigen solchen Menschen treffen w\u00fcrde. Wo? fragte ich mich ununterbrochen, und wie? Pl\u00f6tzlich ist mir klar geworden, da\u00df es diese Menschen, die ich suche, in Belgrad absolut nicht gibt. Diese Menschen gibt es vor allem nicht in Belgrad, habe ich auf einmal gedacht, es hat keinen Sinn, sie in Clubs zu suchen, weil es sie in Belgrad nicht gibt, habe ich mir auf einmal gesagt und bin ich aus dem Idiot rausgegangen und ins Ausland gefahren, ich bin weggefahren, sagt Milica, aber im Ausland habe ich es nicht ausgehalten und jetzt bin ich wieder in Belgrad.

Philipp Hau\u00df<\/strong>
Aber in dieser Stadt sind wir verloren, und es hat keinen Zweck, sich l\u00e4nger in dieser Stadt aufzuhalten. Also sind wir st\u00e4ndig so drauf, da\u00df wir die Stadt, in der wir leben und in der wir immer leben, verlassen wollen, weil es unsere Gewohnheit ist, in dieser Stadt zu leben und einen Umzug zu planen, das ganze Leben lang planen wir wegzugehen, solange wir denken k\u00f6nnen, irgendwohin, wir wollen nichts anderes, weil wir auch nichts anderes sind als Belgrader, die keine Belgrader sein wollen, abgesehen von anderen Unterschieden.

Marie-Luise Stockinger<\/strong>
Wir haben nicht die M\u00f6glichkeit, das Belgrader Clubbing zu verlassen. Wir k\u00f6nnen nicht \u00fcber Nichtverbleib oder Verbleib entscheiden. Alles, was wir tun, ist nichts. Alles, was wir einatmen, ist nichts. Wenn wir ausgehen, gehen wir von einem Belgrader Club zum n\u00e4chsten. Wir gehen und gehen immer von einer schlechten M\u00f6glichkeit zur n\u00e4chsten. Wegziehen, nichts anderes als aus dieser Stadt wegziehen, wiederholte Bojana, so Milica, immer wieder. Nur weggehen. Die ganzen Jahre habe ich gedacht, etwas wird sich \u00e4ndern, ich werde aus Belgrad weggehen, sagte Bojana, aber nichts hat sich ver\u00e4ndert (weil sich nichts ver\u00e4ndern konnte), so Milica, und sie ist nicht weggegangen. Wenn du nicht rechtzeitig weggehst, sagte Bojana, ist es auf einmal zu sp\u00e4t, und dann kannst du tun, was du willst, aber du kannst nicht mehr weggehen.

Philipp Hau\u00df<\/strong>
Dieses Problem, da\u00df man aus Belgrad nicht weggehen kann, da\u00df man in Belgrad nichts ver\u00e4ndern kann, besch\u00e4ftigt dich dann das ganze Leben, soll Bojana gesagt haben, und du besch\u00e4ftigst dich mit nichts anderem mehr. Dann wirst du immer hilfloser und schw\u00e4cher und sagst dir immer \u00f6fter, da\u00df du weggehen mu\u00dft, und fragst dich, ob es schon zu sp\u00e4t ist, wegzugehen. Wenn wir uns aber fragen, warum wir nicht weggegangen sind, und zwar fr\u00fch genug weggegangen sind, und zwar im Zeitraum, der der S\u00e4ttigung vorangeht, wissen wir, warum das so ist, so Bojana zu Milica. Milica sagt: Weil es keine intensiven Ver\u00e4nderungen in Belgrad gibt, wo sich in Wahrheit alles von Grund auf ver\u00e4ndern m\u00fc\u00dfte, und alle wollen, da\u00df sich alles ver\u00e4ndert von Grund auf, aber das geht nicht, denn wir leben einfach nicht woanders, und das bedeutet,

Marie-Luise Stockinger<\/strong>
Es gibt keine Ver\u00e4nderungen, nichts wird sich \u00e4ndern, sagt Bojana.
In was f\u00fcr Zust\u00e4nde und an was f\u00fcr Orte ich nicht gelangen konnte in all diesen Jahren, weil es sich um Zust\u00e4nde und Orte handelt, in die du nicht gelangen kannst von Belgrad aus, in Belgrad, sagt Bojana. Auch ich h\u00e4tte vor drei Jahren Belgrad verlassen sollen, so wie du nach Deutschland gegangen bist, wenn auch unter den f\u00fcrchterlichsten Umst\u00e4nden, so wie du, aber ich bin nicht gegangen; jetzt empfinde ich diese ganze Clubbingerniedrigung als eine Bestrafung f\u00fcr meine Feigheit.<\/p>\t\t\t<\/div>\n\t\t<\/div>\n\t<\/div>\n\n\n\n\n\t\n\t\t\t

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Mircea C\u0103rt\u0103rescu:\u00a0<\/strong>Die sch\u00f6nen Fremden<\/strong><\/blockquote><\/p>\t\t\t<\/div>\n\t\t<\/div>\n\t<\/div>\n\n\n\n\n\t\n\t\t\t
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\n\tMircea C\u0103rt\u0103rescu. Die sch\u00f6nen Fremden<\/h2>\n\t
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\n\tAus dem Rum\u00e4nischen von Ernest\u00a0Wichner. Zsolnay Verlag<\/a>, Wien 2016

Lesung Fassung Burgtheater: Rita Czapka<\/p>\n\t<\/div>\n<\/div>\n\t<\/div>\n\n<\/div>\n\n\n\n

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\n\tPhilipp Hau\u00df<\/strong>
Gleich zu Beginn m\u00f6chte ich meine literarischen Gegner bitten, sich nicht zu fr\u00fch zu freuen: Es folgen nun keine nennenswerten masochistischen Bekenntnisse dar\u00fcber, was f\u00fcr ein schlechter Schriftsteller ich bin (oder zumindest gewesen war) oder wie ich \u00fcber ein Vierteljahrhundert die Welt mit meinen beklagenswerten literarischen Hervorbringungen hinters Licht gef\u00fchrt habe. Es ist nicht meine Art, im Gegenteil. Von meinem Gro\u00dfvater Badislav Dumitru habe ich (so hei\u00dft es) zwei charakteristische Eigenschaften geerbt, den Geiz und die Prahlerei. Was Ersteren angeht, so verf\u00fcgte er dar\u00fcber ausgiebig \u2014 so oft er auch bei uns vorbeikam, gro\u00df und verschwitzt, niemals hat er uns Kindern etwas mitgebracht, nicht einmal eine D\u00f6rrpflaume. Und an seine Prahlereien erinnere ich mich noch besser. Wenn wir zu ihm nach T\u00e2ntava kamen und uns um das runde Tischchen setzten, auf dessen nackter Holzplatte die M\u04d1m\u04d1lige dampfte, holte er die Tonbecherchen hervor, go\u00df jenen d\u00fcnnen anger\u00e4ucherten Schnaps ein, der im gesamten S\u00fcden literweise getrunken wird, und w\u00e4hrend sein Blick \u00fcber die bunt bestickten T\u00fccher und Ikonen an der Wand glitt, legte er los mit der haneb\u00fcchensten Rede, die ich je geh\u00f6rt habe.<\/p>\t<\/div>\n\n<\/div>\n\n<\/div>\n\t\t\t<\/div>\n\t\t<\/div>\n\t<\/div>\n\n\n\n\n\t\n\t\t\t

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\n\tMarie-Luise Stockinger<\/strong>
Wenn man ihm zuh\u00f6rte, h\u00e4tte man meinen k\u00f6nnen, alles, was sich in seinem Dorf zutrug, sei allein sein pers\u00f6nliches Werk: Er war der Flei\u00dfigste von allen, der Gescheiteste, auf ihn h\u00f6rten alle, er war der Mutigste und \u2014 w\u00e4ren da nicht auch seine T\u00f6chter, darunter auch Mutter, in der N\u00e4he gewesen \u2014 vielleicht h\u00e4tte er sich auch damit gebr\u00fcstet, im gesamten Dorf der beste Besamer zu sein.

Philipp Hau\u00df<\/strong>
\u00bbMich, he? Der will mich verfluchen? Herrje, wie ich ihm eine aufs Maul gegeben hab … Ich, he?
Seine Stimme klingt mir seit meinem vierten Lebensjahr in den Ohren, und ich habe im Lauf der Zeit gro\u00dfe Anstrengungen unternommen, sie loszuwerden. Dass er mal eine Schw\u00e4che zugegeben h\u00e4tte, einen Fehler, einen Mangel? Man h\u00e4tte gesagt, das Jahr seines Todes sei angebrochen. Ich nun, der ich hinsichtlich des Selbstlobs neben ihm ein Zwerg bin, habe immerhin genug davon geerbt, um mir nicht in der \u00d6ffentlichkeit Asche aufs Haupt zu streuen.

Ich befand mich in Bukarest, als mir angek\u00fcndigt wurde, ich w\u00fcrde im Herbst zur Delegation der Zw\u00f6lf geh\u00f6ren\u2013 einer Delegation von zw\u00f6lf rum\u00e4nischen Schriftstellern, die f\u00fcr drei Wochen nach Frankreich eingeladen waren.

Als ich mich im November 2004 der Gruppe f\u00fcr Belles \u00c9trang\u00e8res beigesellte, war ich ein Dutzendschriftsteller, also nichts Au\u00dfergew\u00f6hnliches. Alle waren wir Dutzendschriftsteller…zw\u00f6lf grimmige Leute, darauf aus, in einer dreiw\u00f6chigen Tour Frankreich zu erobern, das literarische Frankreich, aber nicht nur dieses.

Also w\u00fcrde ich aus Wien nach Paris aufbrechen, denn im September sollten wir mit Mann, Frau, Maus und Knabe nach Wien ziehen. Ich sollte ein Jahr lang an der Wiener Universit\u00e4t ein paar Studenten, die ebenso gut Rum\u00e4nisch sprachen wie ich, in dieser Sprache unterrichten; sie hatten sie von ihren in den siebziger und achtziger Jahren aus dem Land der Sojasalami ins Land der echten Butter geflohenen Eltern gelernt.

Die Ausgew\u00e4hlten f\u00fcr Frankreich waren recht gut, nun ja, weder der Schriftstellerverband noch das damalige Kulturinstitut oder gar eine Kritikerjury hatte die Auswahl getroffen, sondern sie, die Franzosen, die es besser verstanden.

Marie-Luise Stockinger<\/strong>
Jedes Jahr schlie\u00dfen die Franzosen die Augen (ich k\u00fcmmere mich hier nicht um Institutionen oder Namen: Die Franzosen werden in meiner Geschichte von drei, vier sympathischen Damen vertreten, die eben taten, was sie konnten) und lassen die Erdkugel kreisen, wobei sie aufs Geratewohl mit einer Nadel auf einen Punkt zielen und hoffen, auf Land zu treffen. Dieser Brauch tr\u00e4gt den Namen Belles \u00c9trang\u00e8res, sch\u00f6ne Fremde.

Philipp Hau\u00df<\/strong>
Seit ich erfahren hatte, dass ich ein solch sch\u00f6nes Wesen sein sollte, war ich neugierig, wer die anderen sein w\u00fcrden, und ich erfuhr; dass dieser Harem alle meine alten Bekannten umfasste. Alle geh\u00f6rten sie zu den armen Schluckern, die, so wie ich Sojasalami gegessen hatten und trotz der Freiheit nach 1989 noch in den alten Gefilden lebten.

Ich w\u00fcrde sagen, im gro\u00dfen Ganzen war die Truppe okay. Etwa acht von ihnen h\u00e4tte ich auch selber ausgew\u00e4hlt. Da blieben noch die Fragen der Vertr\u00e4glichkeit: Seltsam, mit fast allen stand ich in guten Beziehungen, zwischen Freundschaft und konventionellem L\u00e4cheln. Bis vielleicht auf eine kleine Ausnahme, einer sehr kleinen, die ich besser \u00fcbergehe.

Marie-Luise Stockinger<\/strong>
Die Stunden vergingen schnell, bei Kaffee und Keksen, in den bequemen Sitzen des Zugs l\u00fcmmelnd. Frankreich \u00f6ffnete und schloss sich neben uns wie ein Rei\u00dfverschluss, verschiedenartig und vielfarbig, mit G\u00fctern und Bepflanzungsflecken, mit elektrischen Windm\u00fchlen und D\u00f6rfern, deren H\u00e4user wie Puppenh\u00e4user wirkten. Wenn man viel reist, gen\u00fcgt es, im Flugzeug oder im Zug aus dem Fenster zu schauen, und man wei\u00df, in welchem Land man sich befindet. Die D\u00f6rfer sind in Frankreich anders als in Deutschland oder Holland, und allesamt sind sie anders als der Anblick eines rum\u00e4nischen Dorfes aus dem Flugzeug: wie M\u00e4uler mit schwarz gewordenen Z\u00e4hnen und Blechz\u00e4hnen, schief \u00fcbereinander gewachsen, in v\u00f6lliger Unordnung.

Philipp Hau\u00df<\/strong>
In Aix stiegen wir aus und wurden von einem Taxi abgeholt, das uns irgendwohin durch die Dunkelheit fuhr, auf immer gewundeneren und dunkleren Stra\u00dfen durch dichten Nebel, bis wir bei Einbruch der Nacht zu einer Pension kamen. Wir stiegen aus dem Auto und wurden von l\u00e4hmender K\u00e4lte in Empfang genommen.

Nach dem Essen (das Cassoulet quoll uns beinahe zu den Ohren heraus), wurden wir sogleich in den Saal gebracht, in dem die Lesungen stattfanden. Im Saal waren Gymnasiasten und die hiesigen Schnorrer, die lediglich kommen, um am Schluss den Kuchen aufzuessen. Wir wurden ins Pr\u00e4sidium gebeten, den Dolmetscherj\u00fcngling – einen jungen Soldaten – an der Seite. Nach der Begr\u00fc\u00dfung begann mein eigenes Programm: \u00bbGegenstand meines neuen Buches ist die Weiblichkeit.\u00ab Hier legte ich eine kleine Pause f\u00fcr die \u00dcbersetzung ein. Der \u00dcbersetzer aber schwieg. Er schaute mich mit hingebungsvollen und keuschen Augen an und sagte kein Wort. Ich wiederholte meinen Satz und schaute ihn wieder an, dabei forderte ich ihn mit meinem Blick auf, mit seiner \u00dcbersetzung zu beginnen. Woraufhin sich der Soldat zu mir herabbeugte und mir ins Ohr fl\u00fcsterte: \u00bbMein Herr, was ist das, der Gegenstand?\u00ab Ich versuchte es noch zweimal und gab mich dann geschlagen. Der Soldat wusste nicht, was Worte wie \u00bbProfil\u00ab, \u00bbEntschleunigung\u00ab, \u00bbMetamorphose\u00ab, \u00bbdynamisch\u00ab, \u00bbmorbid\u00ab und Millionen anderer W\u00f6rter bedeuteten. Sein Wortschatz bestand wahrscheinlich im Rum\u00e4nischen wie im Franz\u00f6sischen aus etwa dreihundert W\u00f6rtern.

Ich las Einiges aus meinen Texten, Mury, mein Kollege sagte das eine oder andere Gedicht auf, dann folgten die gewohnten Fragen, denen wir stets auf unserer franz\u00f6sischen Tour begegneten: \u00bbHaben Sie in Rum\u00e4nien Bibliotheken?\u00ab \u00bbGibt es Verlage in Rum\u00e4nien?\u00ab \u00bbBenutzt ihr die Wassersp\u00fclung auf dem Klo?\u00ab Und weitere Dinge von dieser Art. Irgendwann konnte Mury, mein Tischnachbar es nicht mehr aushalten und stand stolz wie ein Daker auf der Trajanss\u00e4ule auf, um zu verk\u00fcnden: \u00bbMais nous ne sommes pas des sauvages, Madame!\u00ab<\/em>

Marie-Luise Stockinger<\/strong>
Am n\u00e4chsten Tag war der Nebel so dicht, dass man ihn mit dem Messer h\u00e4tte schneiden k\u00f6nnen. Nicht nur die Pyren\u00e4en waren durch das Pensionsfenster nicht mehr zu sehen, denn \u00f6ffnete man dieses, drang ein derma\u00dfen dichter Dunst ins Zimmer, dass man seine eigene Hand nicht mehr vor den Augen sehen konnte.

Philipp Hau\u00df<\/strong>
Schon am fr\u00fchen Morgen holten sie uns mit einem Auto ab, das von Reif bedeckt war. Es dauerte eine ganze Weile, bis sich die eisstarre Luft im Inneren so erw\u00e4rmt hatte, dass man sie einatmen konnte. Wir fuhren langsam \u00fcber eine leere Stra\u00dfe, die Sicht praktisch null. Die Stille drau\u00dfen \u00e4hnelte jener in \u00bbSolaris\u00ab, in den Szenen mit dem denkenden Ozean.

Marie-Luise Stockinger<\/strong>
Das Auto hielt vor einem Geb\u00e4ude, das etwa so aussah wie bei uns in der tiefsten Vorstadt, ein zusammengeschusterter Bau, marode, vom Nebel bedeckt. Die W\u00e4nde aus grobschl\u00e4chtigen Lehmziegeln buckelten sich mal nach innen und mal nach au\u00dfen, beschrieben unterschiedliche B\u00f6gen. Es war das einzige Geb\u00e4ude in der Gegend, weit au\u00dferhalb des Dorfes gelegen, und nun, in Nebel geh\u00fcllt wie in Filz, wirkte es r\u00e4tselhaft und verlassen. Bald aber kam Monsieur Not uns in Empfang zu nehmen, er trug einen malerisch verdreckten Arbeitskittel und war ausgestattet mit einem gezwirbelten Schnurrbart und feuerroten Wangen. Es folgte ein \u201erum\u00e4nisches Abendmahl\u201c.

Philipp Hau\u00df<\/strong>
Ich wei\u00df nicht, welchem Zweck der gewaltige Saal, den ich stocksteif gefroren betrat gew\u00f6hnlich diente, er konnte alles sein, vom Hangar f\u00fcr die gr\u00f6\u00dften Boeings bis zur Halle f\u00fcr die Frankfurter Buchmesse. \u00dcber die gesamte L\u00e4nge erstreckten sich lange Tische, wie f\u00fcr eine Hochzeit, und zu beiden Seiten standen Holzb\u00e4nke. An den W\u00e4nden gab es Schautafeln, auf denen bizarres und disparates didaktisches Material pr\u00e4sentiert wurde. F\u00fcr einen Moment f\u00fchlte ich mich in die Vergangenheit und in meine Grundschulklasse zur\u00fcckversetzt, an deren W\u00e4nden die bekannten Schaubilder mit der Kuh, dem Schwein, den sch\u00f6n kalligraphierten Schreib- und Druckbuchstaben sowie mehrere Landkarten von Rum\u00e4nien hingen, darunter auch eine im Relief, auf der die Karpatengipfel in br\u00f6seligem Gips modelliert und schon angeschrammt waren. Entlang der gewaltigen Halle hingen Hirtenjacken, bunt bestickte Leibchen, ebensolche Sch\u00fcrzen, Kopft\u00fccher, Leinenhosen, raue Wollhosen, b\u00e4uerliche Filzh\u00fcte, bestickte Blusen, M\u00fctzen, Tuniken, Pluderhosen, Leibgurte, Bundschuhe und dergleichen mehr, all dies sah alt und verstaubt aus, wie die zerfledderten V\u00f6gel im Antipa-Museum* (Naturkundemuseum in Bukarest).

Marie-Luise Stockinger<\/strong>
Dazwischen gestreut waren vergilbte, aus rum\u00e4nischen Zeitschriften gerissene Bl\u00e4tter mit den Kl\u00f6stern der Nordmoldau, Ochsengespannen und barbusigen B\u00e4uerinnen, die wie rustikale M\u00e4dchen aussahen, Souvenirteller mit Schloss Bran, Schilde aus geschnitztem Holz mit dem Antlitz Draculas\u2026 Endlos ist die Vorstellungskraft des Menschen, allein sein Hang nach dem Malerischen und Ungewohnten kommt dieser noch nahe! Eine Karte Rum\u00e4niens, vom Band der Trikolore konturiert, hing an sehr sichtbarer Stelle an einer der W\u00e4nde und h\u00e4tte einen neuerlichen Balkankrieg ausl\u00f6sen k\u00f6nnen: Ihr so ungeschickter wie enthusiastischer Autor hatte aus Unachtsamkeit gro\u00dfe Flecken von Bulgarien, der Ukraine und Moldawien dem rum\u00e4nischen Staatsgebiet eingegliedert, sodass einem danach war, wie das ber\u00fchmte Kind in der Lesefibel auszurufen: \u00bbEs lebe unser pummeliges Rum\u00e4nien!\u00ab

Philipp Hau\u00df<\/strong>
Schlie\u00dflich wurde am Kopfende des Saales eine gro\u00dfe Leinwand entrollt, die phantastische Bilder zeigte. Was gab es da nicht alles zu sehen?! Pferdewagen, beladen mit altem Eisen, die von Rum\u00e4nen mit einer Flasche in der Hand gelenkt wurden, \u00fcberladene Pal\u00e4ste im Pagodenstil mit in der Sonne funkelnden Blechd\u00e4chern, in deren Toren dicke und fr\u00f6hliche Rum\u00e4ninnen mit Z\u00e4hnen aus dem gleichen Blech standen, die ebenfalls in der Sonne funkelten; Rum\u00e4nenm\u00e4dels mit geflochtenen Z\u00f6pfen und in Faltenr\u00f6cken, die sich mit zweifelhaftem Geschmack aufgedonnert hatten und auf der Landstra\u00dfe per Anhalter weiterkommen wollten; wieder andere Rum\u00e4nen, die schwarze Fiedeln und die Zimbal spielten; und nochmal Rum\u00e4nen, die im T\u00fcrkensitz am Stra\u00dfenrand sa\u00dfen und Ringe anfertigten; und wiederum andere Rum\u00e4ninnen, die aus der Hand lasen.

Marie-Luise Stockinger<\/strong>
Auf diesen Fotos gab es nicht nur Menschen zu sehen, auch Lehmh\u00e4user mit Schilfd\u00e4chern, die seitlich wegkippten, Kneipen voller Fernfahrer, G\u00e4nseherden, die sich mitten auf der Stra\u00dfe in einer Pf\u00fctze suhlten, Lumpen an W\u00e4scheleinen. Dar\u00fcber schwebten h\u00fcbsche Wolken, die einzigen Dinge, die das franz\u00f6sische Publikum ganz leicht wiedererkennen konnte. Die Fotos waren, wie sie waren, aber vor der Leinwand standen, vorerst noch verlassen, in einem grazi\u00f6sen Stillleben, ein gr\u00fcn-perlmutternes Akkordeon, ein Kontrabass, eine Messingtuba und eine Trommel. Kein Zweifel, hier w\u00fcrde sehr bald eine Rum\u00e4nenband, Emiss\u00e4re der Spiritualit\u00e4t, die Atmosph\u00e4re aufheizen.

Philipp Hau\u00df<\/strong>
Erstaunt bewegten wir uns durch die gewaltige Halle, der Schwei\u00df floss uns pl\u00f6tzlich in Str\u00f6men, und unsere Wangen gl\u00fchten nicht allein aufgrund der W\u00e4rme. Was h\u00e4tten wir nicht alles darum gegeben, wieder drau\u00dfen zu sein im schneidenden, aber w\u00fcrdigen Frost … Leider wurde uns der R\u00fcckzug endg\u00fcltig von den Einheimischen abgeschnitten, die nun in Gruppen eintrafen und sich, komplizierte Verwandtschaftsverh\u00e4ltnisse und Verschw\u00e4gerungen bedenkend, an die Tische setzten, auf denen vorerst blo\u00df Teller und Gl\u00e4ser standen. Sie kamen zu Hunderten, sodass man schlie\u00dflich keine Nadel mehr h\u00e4tte fallen lassen k\u00f6nnen. Es waren Menschen vom Lande, die sonntags ins Caf\u00e9 neben der Kirche gehen und morgens die Kuh melken und die Enten f\u00fcttern. Sympathisch, mit sch\u00f6nen Haarschnitten, raumgreifend als S\u00fcdl\u00e4nder, die sie waren. Und vor allem scharf auf eine neue Erfahrung: jener, sich m\u00fchelos ins ber\u00fchmte Land des gro\u00dfen Dracula versetzen zu lassen, das von sonnengebr\u00e4unten und windgegerbten Menschen bev\u00f6lkert ist, wo sie einiges \u00fcber die Geheimnisse eines guten und gastfreundlichen Menschenschlags erfahren sollten, der auch heute noch so lebte wie die Gallier in den gl\u00fccklichen Zeiten von Asterix und Obelix. Ein paar h\u00fcbsche M\u00e4dchen setzten sich zu uns, vielleicht um uns zu tr\u00f6sten, und die Zeit bis zur Ankunft des ersten Gangs ihrer spezifisch rum\u00e4nischen Speise verging schneller. Vor allem da sich vor der Leinwand, von der soeben ein Rum\u00e4ne mit der Visage von Hannibal Lecter herabgrinste, pl\u00f6tzlich der B\u00fcrgermeister in der Positur des Zeremonienmeisters aufpflanzte und, nachdem er seinen Stolz zum Ausdruck gebracht hatte, so ber\u00fchmte Pers\u00f6nlichkeiten wie Mury und mich als G\u00e4ste begr\u00fc\u00dfen zu d\u00fcrfen (hier wurden wir beklatscht wie bei einer Oscar-Gala), die Band \u00bbLes Gitanes Amoureux\u00ab ank\u00fcndigte, die spezifisch rum\u00e4nische Musik spielen werde.

Marie-Luise Stockinger<\/strong>
Es waren drei Burschen, die ihrem Aussehen nach wahrscheinlich in den Metros spielten, und ein M\u00e4dchen, das… aber das Aussehen kann ja bekanntlich t\u00e4uschen. Im Handumdrehen hatte sich das M\u00e4dchen das Akkordeon umgeschnallt, wie jene Tragetaschen, in denen man die Neugeborenen tr\u00e4gt, und begann, dem elastischen Balg verst\u00f6rende Akkorde zu entlocken. Die anderen griffen sich ihre Instrumente und, traten ihr bei. Zwei Stunden lang, \u00fcber die gesamte Dauer dieses Albtraums, greinten die verliebten Zigeuner in etwa sechs, sieben Sprachen, die ganz und gar unverst\u00e4ndlich waren (mitunter konnte ich Ankl\u00e4nge von Portugiesisch, Franz\u00f6sisch, Rum\u00e4nisch, Serbisch oder Zigeunerisch, vermengt mit einem internationalen Hafenenglisch, vernehmen), zu einer Musik, deren Herkunft ebenfalls in hohem Ma\u00dfe fragw\u00fcrdig war: Es waren weder rum\u00e4nische Gassenhauer noch algerische Musik, weder Klezmer noch Balkanrock, noch Flamenco \u2014 sondern etwas ohne Form und Namen, worin einem hin und wieder, wie Goldk\u00f6rnchen in einem Haufen Schlacke, etwas bekannt vorkam: \u00bbPero no sempre cantaro\u00ab, \u00bbwhy, why, why, Delilah\u00ab, \u00bblelito, f\u00e4\u00ab, \u00bbkalashnikov\u00ab, \u00bbbuon giorno Italia, buon giorno Maria\u00ab …

Philipp Hau\u00df<\/strong>
Die Musik, sagt man, erheitert die Gem\u00fcter. Unsere jedenfalls hat sie komplett platt gemacht, vor allem, weil sie sich letztlich den Speisen zugesellte (schlie\u00dflich waren diese nicht mehr lange zu vermeiden gewesen), den spezifisch rum\u00e4nischen Gerichten, die der Reihe nach von einer Abordnung alterslos wirkender Frauen in wei\u00dfen Kittelsch\u00fcrzen, genauso wie die K\u00f6chinnen in rum\u00e4nischen Kantinen, auf die Tische gestellt wurden.

Es war der erste Gang, der in dem von einer Trikolore geschm\u00fcckten Men\u00fc als \u00bbSoupe de goulash \u00e0 la Roumaine\u00ab angek\u00fcndigt war. Bald hatten wir diese verd\u00e4chtige Fl\u00fcssigkeit in den tiefen Tellern. \u00bbBet\u00f6rend Wasser, wie finster du hier schwappst!\u00ab Man wei\u00df nicht, aus welch seltsamen Innereien sie gemacht, mit welchen bitteren Kr\u00e4utern, bei Vollmond gepfl\u00fcckt, sie gew\u00fcrzt worden war. Man konnte sie nicht essen. In der melancholischen Br\u00fche, farblich wie Donauwasser aussehend, konnte man mitunter ihre seltsamen Bewohner ersp\u00e4hen: den einen oder anderen einem Ringelwurm \u00e4hnelnder Nudelfaden, etliche W\u00fcrfel faseriges Rindfleisch, deren eine Seite von einer dicken wei\u00dflichen Haut bedeckt war, hin und wieder einen dunkelgr\u00fcnen Faden Liebst\u00f6ckel, trocken am Tellerrand, wie ein kleines Krokodil, das in der Sonne br\u00e4t.

Marie-Luise Stockinger<\/strong>
Wir wagten es, die brackige Substanz zu verkosten: Sie schmeckte nach Grillrauch, als h\u00e4tte man die Barbecue-So\u00dfe gegessen, die man bei McDonald’s bekommt. Niemand a\u00df. Alle schauten die W\u00e4nde an, taten so, als lauschten sie hingebungsvoll dem Gegreine der S\u00e4nger. Uns war danach, vor Scham im Boden zu versinken. Der n\u00e4chste Gang bestand aus Schaffleisch.

Wer mag blo\u00df auf die Idee gekommen sein, Schaffleisch sei typisch f\u00fcr die rum\u00e4nische K\u00fcche? Wir bem\u00fchten uns, etwas davon zu essen. Aber wir kamen nicht \u00fcber den ersten Bissen hinaus, er war ungesalzen und schmeckte nach Asche und Schaftalg.

Philipp Hau\u00df<\/strong>
Beim Bem\u00fchen, es nicht vor aller Augen auszuspucken, kamen mir beinahe die Tr\u00e4nen. \u00bbDie halten uns f\u00fcr Moslems\u00ab, fl\u00fcsterte mir Muresan, mein Kollege resigniert zu.

Marie-Luise Stockinger<\/strong>
Als wir halbverhungert und steif vor K\u00e4lte wieder in der Pension eintrafen, war es, als h\u00e4tten wir den lieben Gott am gro\u00dfen Zeh gepackt. Wir warfen uns in die weichen, mit wunderbaren T\u00fcchern bedeckten Fauteuils und begannen, die Kekse aus einer Sch\u00fcssel auf dem Tisch zu knabbern. Wir a\u00dfen sie bis zum letzten Kr\u00fcmelchen auf, dann gingen wir zu den Pfefferminzbonbons in einem weiteren Sch\u00fcsselchen \u00fcber.

Philipp Hau\u00df<\/strong>
Ich legte mich schlafen, und bevor ich einschlief, dachte ich kurz dar\u00fcber nach, was diese lange Reise f\u00fcr mich bedeuten mochte. Nichts, selbstverst\u00e4ndlich. Rien de rien. Weil nichts etwas bedeutet, niemals. Gesichter. Ereignisse. Reden. Ansammlungen von Farben und Impressionen, von denen in zehn Jahren nichts mehr \u00fcbrig sein wird. Anfangs schnitt ich jede Besprechung zu einem meiner B\u00fccher aus und steckte sie in einen Ordner. Mit der Zeit habe ich darauf verzichtet. Ich bewahrte die Fotos in Schuhschachteln auf, hatte darauf ordentlich das Datum und den Ort vermerkt, an dem sie entstanden waren. Ich habe es bleiben lassen. Wie wahr sind doch die Verse: \u00bbUnd denk ich an mein Leben, so scheint es mir ganz rein. \/ Erz\u00e4hlt jedoch ganz langsam durch einen fremden Mund \/ Wird es mir fremd, das kann nicht ich gewesen sein …\u00ab Ich habe mich an die Reisen gew\u00f6hnt, an die Tourneen, die Lesungen, an die Jahreszeiten und die Schl\u00f6sser. Ich wei\u00df zwar nicht mehr, in welchem Jahr und mit wem ich jede dieser Reisen unternahm … Ich wei\u00df nicht mehr, wer ich bin, wer ich einmal war…<\/p>\t\t\t<\/div>\n\t\t<\/div>\n\t<\/div>\n\n\n\n\n\t\n\t\t\t

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\n\tBarbi Markovi\u0107 aus dem Serbischen von Mascha Dabi\u0107.
Mircea C\u0103rt\u0103rescu aus dem Rum\u00e4nischen von Ernest Wichner.
Lesung Fassung Burgtheater: Rita Czapka.<\/em>

Diese Texte sind urheberrechtlich gesch\u00fctzt: \u00a9 Suhrkamp Verlag<\/a>, Frankfurt am Main 2009, Zsolnay Verlag<\/a>, Wien 2016.<\/em>

Urheberrechtliche Angaben zu Bildern, Grafiken und Videos sind direkt bei den Abbildungen vermerkt. Titelbild: Mircea C\u0103rt\u0103rescu, Martin Pollack und Barbi Markovi\u0107. Foto: \u00a9 Burgtheater\/Reinhard Werner.<\/em><\/p>\t\t\t<\/div>\n\t\t<\/div>\n\t<\/div>\n","protected":false},"excerpt":{"rendered":"

Texte von Mircea C\u0103rt\u0103rescu und Barbi Markovi\u0107 in der Lesefassung f\u00fcr GRENZG\u00c4NGER\/GRENZDENKER<\/p>\n","protected":false},"author":1,"featured_media":822,"comment_status":"closed","ping_status":"closed","sticky":false,"template":"","format":"standard","meta":{"footnotes":""},"categories":[434,268],"tags":[534,356,277],"formats":[],"acf":[],"_links":{"self":[{"href":"https:\/\/tippingpoint.net\/de\/wp-json\/wp\/v2\/posts\/3417"}],"collection":[{"href":"https:\/\/tippingpoint.net\/de\/wp-json\/wp\/v2\/posts"}],"about":[{"href":"https:\/\/tippingpoint.net\/de\/wp-json\/wp\/v2\/types\/post"}],"author":[{"embeddable":true,"href":"https:\/\/tippingpoint.net\/de\/wp-json\/wp\/v2\/users\/1"}],"replies":[{"embeddable":true,"href":"https:\/\/tippingpoint.net\/de\/wp-json\/wp\/v2\/comments?post=3417"}],"version-history":[{"count":3,"href":"https:\/\/tippingpoint.net\/de\/wp-json\/wp\/v2\/posts\/3417\/revisions"}],"predecessor-version":[{"id":6732,"href":"https:\/\/tippingpoint.net\/de\/wp-json\/wp\/v2\/posts\/3417\/revisions\/6732"}],"wp:featuredmedia":[{"embeddable":true,"href":"https:\/\/tippingpoint.net\/de\/wp-json\/wp\/v2\/media\/822"}],"wp:attachment":[{"href":"https:\/\/tippingpoint.net\/de\/wp-json\/wp\/v2\/media?parent=3417"}],"wp:term":[{"taxonomy":"category","embeddable":true,"href":"https:\/\/tippingpoint.net\/de\/wp-json\/wp\/v2\/categories?post=3417"},{"taxonomy":"post_tag","embeddable":true,"href":"https:\/\/tippingpoint.net\/de\/wp-json\/wp\/v2\/tags?post=3417"},{"taxonomy":"format","embeddable":true,"href":"https:\/\/tippingpoint.net\/de\/wp-json\/wp\/v2\/formats?post=3417"}],"curies":[{"name":"wp","href":"https:\/\/api.w.org\/{rel}","templated":true}]}}